An den Intendanten
Rothenbaumchaussee 132
20149 Hamburg
Programmbeschwerde zur Berichterstattung bezüglich der vermuteten Vergiftung von Herrn Nawalny
Sehr geehrte Damen und Herren,
die ARD-Tagesschau sendete am 24.08.2020 um 20 Uhr einen Beitrag bezüglich der vermuteten Vergiftung von Herrn Nawalny.
„Die Ärzte der Charité gehen davon aus, dass Nawalny vergiftet wurde.“ Die Charité teilte in einer Stellungnahme mit: „Die klinischen Befunde weisen auf eine Intoxikation mit einer Substanz aus der Wirkstoffgruppe der Cholinesterase-Hemmer hin.“ Außenminister Maas und Kanzlerin Merkel riefen zur Aufklärung auf, hielten sich aber mit Schuldzuweisungen zurück.
Die Redaktion der Tagesschau brauchte offensichtlich dennoch einen Politiker-Kommentar mit einer der üblichen Schuldzuweisungen direkt an Russlands Präsident Putin. Da kam Herr Röttgen wie gerufen, der wohl zwecks Vorbereitung seiner Kanzler-Kandidatur verstärkt nach Medienpräsenz Ausschau hält. In der Sache hat er nicht viel anzubieten als Kanzler-Kandidat, seine größte Qualifikation ist scheinbar sein außerordentlich stark ausgeprägter Hass gegen alles Russische und seine permanente Verteuflung des russischen Präsidenten. So etwas nehmen unsere deutschen öffentlich-rechtlichen Medien erstaunlich dankbar auf, was für die gegenseitige Abhängigkeit von Politikern und Medien spricht.
Wenn schon von der Bundesregierung nicht die gewünschten Sätze kommen, dann leitet man direkt über zu Herrn Röttgen und erweckt beiläufig den Eindruck, Herr Röttgen als „Experte“ gäbe die Sichtweise der Berliner Politikwelt wieder.
„Für Außenexperten Röttgen ist klar wer dahinter steckt:“
O-Ton Röttgen:
„Auch dieser erneute Mordversuch und die Drohung und Einschüchterung die ja damit an alle Oppositionellen verbunden ist, hat erneut das wahre Gesicht des Regimes und von Wladimir Putin persönlich gezeigt.“
Auf welcher Grundlage Herr Röttgen nun sofort eine Schuldzuweisung an den russischen Präsidenten vornahm, bleibt sein Geheimnis. Die Tagesschau teilte es uns nicht mit.
Geht man unvoreingenommen an die Sache heran, stellt man leicht fest, dass eine solche sofortige Schuldzuweisung irgendwie nicht plausibel erscheinen mag:
1. Herr Nawalny wurde in Omsk sofort von besten Ärzten behandelt. Russland hat Herrn Nawalny schnellstmöglich ausfliegen lassen, trotzdem er aufgrund eines laufenden Ermittlungsverfahrens gegen ihn das Land nicht verlassen durfte. Die Abholung verzögerte sich übrigens nicht nur wegen Bedenken der russischen Ärzte bezüglich der Transportfähigkeit, sondern auch weil die Piloten der Bundeswehr gemäß Dienstanweisung erst einmal mehrere Stunden Pause machen mussten. Und schon gar nicht „weil das Gift erst abgebaut werden sollte“, wie es deutsche Medien behaupteten.
2. Die Charité hat nicht geschrieben, Nawalny sei gezielt vergiftet worden. Es wurde eine Wirkstoffgruppe genannt, aber keine konkrete Substanz und auch keine Dosis. Cholinesterase-Hemmer kommen an vielen Stellen in unserer Umwelt und in unserer Nahrung als Rückstände von Insektiziden vor und sind sicherlich bei fast jedem Deutschen und bei vielen Russen in Spuren nachweisbar. Sie können aber auch Bestandteil von Medikamenten und Kampfstoffen sein. Sie sind jedoch sehr leicht nachweisbar und daher wohl denkbar schlecht geeignet für eine geheime Tötung im direkten Auftrag durch Wladimir Putin höchstpersönlich – wie Herr Röttgen behauptete. (Das muss schon ein dusseliger Geheimdienst sein. Aber auch dafür hatte Herr Röttgen eine Erklärung am späteren Abend auf Lager: Das sei Putins Art, die Opposition zu warnen.)
3. Herr Nawalny hat in Russland viele ganz unterschiedliche Feinde, auch in den Bevölkerungsgruppen, gegen welche er regelmäßig hetzt. Und der einflussreichste Oppositionspolitiker ist er ganz sicher nicht, das ist eher Wunschdenken westlicher Unterstützer. Wie der MDR schon am 19.06.2017 berichtete unter der Überschrift „Nawalny macht offene Fremdenfeindlichkeit hoffähig“, ist Herr Nawalny eher ein Negativ-Aushängeschild für seine russische Neinsager-Fundamentalopposition. (Hierzulande würde man eine Person wie Nawalny irgendwo zwischen AfD und NPD verorten, und würde entweder regelmäßig einen Shitstorm gegen ihn veranstalten oder ihn medial ganz ignorieren. Wir Zuschauer wissen aber schon, dass in Bezug auf Russland durch ARD und ZDF immer mit einem anderen Maß gemessen wird.) Warum sollte also Wladimir Putin eine Person aus der Welt schaffen wollen, welche diesen zahlenmäßig sowieso unbedeutenden Teil der Opposition permanent diskreditiert?
Die Tagesschau hält sich natürlich nicht mit solchen lästigen Plausibilitätsüberlegungen auf. Die Zuschauer sollen doch nicht mit zu viel Kontextinformation überfordert werden. Wir sind dennoch gespannt, welche weitere Entwicklung die Untersuchungen nehmen werden, im Moment deutet einiges auf eine massive äußere Einflussnahme auf die Charité hin.
Ihre Berichterstattung ist immer wieder von geopolitischer Voreingenommenheit und von russophoben Einstellungen durchsetzt.
Mit Ihrer Berichterstattung verstießen Sie gegen Ihren Programmauftrag laut Staatsvertrag über den Norddeutschen Rundfunk:
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(1) Der NDR hat den Rundfunkteilnehmern und Rundfunkteilnehmerinnen einen objektiven und umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und länderbezogene Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Sein Programm hat der Information, Bildung, Beratung und Unterhaltung zu dienen….
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Aus Gründen der Transparenz werden sowohl diese Beschwerde als auch der weitere Verlauf der Stellungnahmen auf der Webseite des Vereins http://www.publikumskonferenz.de/forum/ veröffentlicht.
Mit freundlichen Grüßen
Jens Köhler