Der Westen hat seinen moralischen Kompass verloren

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Maren
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Der Westen hat seinen moralischen Kompass verloren

Beitrag von Maren »

Im Iran, im Irak und im Libanon gehören die Schiiten zu den fortschrittlichsten Teilen der Gesellschaft

Interview mit Karin Leukefeld, freie Journalistin und Nahost-Expertin

Zeitgeschehen im Fokus Wie werden die aktuellen Ereignisse – der Angriff Israels auf den Iran, die Bombardierung durch die USA und die Antwort des Iran – von der Bevölkerung im Libanon und Syrien kommentiert?

Karin Leukefeld Da ich mangels Journalistenvisum bisher nicht wieder nach Syrien einreisen konnte, kann ich nur aus zweiter Hand berichten, was mir Freunde in Telefongesprächen aus Damaskus erzählten. Danach gab es einerseits wenig Interesse an dem israelischen Angriff auf den Iran, wenige Kommentare. Die Leute sind einfach zu sehr mit den unzähligen Alltagsproblemen beschäftigt und interessieren sich nicht mehr für das, was um sie herum geschieht. Manche Leute schickten mir Videos, die sie nachts vom Balkon aufgenommen hatten. Zu sehen waren Raketen, die von Ost nach West unterwegs waren und Abfangraketen – eine Art Feuerwerk.

Dann wieder gab es Leute, die sich über den Angriff auf den Iran freuten, weil dieser «uns jahrelang angegriffen hat». Nachgefragt, welcher Art die Angriffe denn gewesen seien, verstummten die Leute meist. Ich hatte den Eindruck, dass sie wiederholten, was sie gehört hatten und «irgendwie richtig» fanden. Tatsache ist, dass die Unterstützung des Iran für die Assad-Regierung und die Armee derer, die jetzt die HTS-Administration unter Ahmed Al Sharaa, den langjährigen Al Qaida-Vertreter in Syrien, Al Jolani, unterstützen, abgelehnt wird. Diese Leute haben auch immer die Unterstützung des Iran für die Hisbollah und die Hisbollah abgelehnt, die ebenfalls an der Seite der syrischen Armee kämpfte.

Schon vor dem Krieg, der 2011 begann, erzählten mir Leute, der Iran habe eine «fünfte Kolonne» in Syrien. Die Syrer sollten alle zu Schiiten gemacht werden. Es gab Gerüchte, die zu Überzeugungen wurden – entsprechend angeheizt von Hasspredigern in (sunnitischen) Moscheen. Das gilt nicht für Sufis, die sowohl schiitische als auch sunnitische Muslime sein können.

Tatsächlich ist die Zahl der Schiiten in Syrien sehr gering, schon vor dem Krieg 2011 nicht viel mehr als 1 Prozent. Ja, es gab iranische Pilger, die die schiitischen Moscheen in Sayda Zeynep und Damaskus besuchten – sie besuchten übrigens auch immer die Klöster in Maalula – aber das waren Touristen, die nur wenige Tage in Syrien blieben.

Ich muss aber sagen, dass ich sowohl im Irak als auch in Syrien als auch im Libanon von sunnitischen Muslimen völlig absurde Vorurteile und Meinungen über schiitische Muslime gehört habe. So absurd, dass man sie gar nicht wiederholen mag. Tatsache ist, dass soziologisch gesehen die Schiiten im Iran, im Irak und im Libanon zu den fortschrittlichsten Teilen der Gesellschaft gehören: Frauen bekommen selten mehr als zwei Kinder, sind an den Universitäten und sind berufstätig. Das ist immer ein Gradmesser dafür, wie fortschrittlich eine Gesellschaft ist.

Kennen Sie auch Reaktionen aus Israel? Den Beschuss mit Raketen, der eine direkte Bedrohung darstellt, hat Israel so noch nie erlebt. Haben Sie Reaktionen aus der Bevölkerung gehört?

Ich habe den Krieg in Beirut verfolgt, und zwar zumeist über Al Jazeera auf Englisch. Der Sender berichtet aus Amman, weil Israel Al Jazeera verboten hat, aus Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten zu berichten. Al Jazeera bringt zumindest im englischsprachigen Programm viele Stimmen aus Israel. Einerseits über das israelische Fernsehen, das man in Jordanien ja sehen kann.

Andererseits werden israelische Journalisten und Kommentatoren, ehemalige Politiker und Militärs in Interviews geschaltet. Es sind Netanyahu-kritische Stimmen, die allerdings auch berichteten, dass die israelische Bevölkerung den Angriff auf den Iran richtig findet und mehr als 80 Prozent der Israelis ihn unterstützen. Auch wenn ihre Häuser von iranischen Raketen zerstört wurden. Gideon Levy, der häufig auf Al Jazeera zu sehen und zu hören ist, sagte in einem Interview, es sei das erste Mal, dass Israelis erleben, was die Menschen im Gaza-Streifen seit Oktober 2023 durchmachen müssen.

Doch die Israelis hätten Schutzräume und Bunker, die Leute im Gaza-Streifen nicht. Einige sagten, dass die Haltung der Bevölkerung sich möglicherweise ändern würde, wenn der Krieg lange anhielte. Nach 12 Tagen war Schluss – erstmal. Netanyahu präsentierte sich als Sieger.

Journalisten in Israel und auch ausserhalb berichteten übrigens von einer scharfen israelischen Militärzensur hinsichtlich der vom Iran getroffenen und zerstörten Ziele. Vieles durfte nicht genannt, nicht fotografiert werden. Dennoch sah man Bilder – aus israelischen Medien und/oder Agenturaufnahmen – von Leuten die völlig erschüttert angesichts der Zerstörung waren, in Tränen aufgelöst, die Hände über dem Kopf zusammenschlugen, als könnten sie es nicht glauben.

Was bedeutet der Angriff für die Hamas und die Hisbollah?

Während der ganzen Zeit der Angriffe auf den Iran gingen die israelischen Angriffe auf den Gaza-Streifen und auch auf den Libanon weiter. Im Gaza-Streifen wurden die Angriffe so massiv, dass täglich bis zu 100 Menschen getötet wurden. Hamas-Kämpfer haben in der Zeit zahlreiche Angriffe auf israelische Truppen im Gaza-Streifen durchgeführt, teilweise auf Videos festgehalten. Bei einem Hinterhalt kamen sieben israelische Soldaten ums Leben, israelische Hubschrauber kamen, um die Verletzten und Toten zu bergen.

Im Westjordanland nimmt die Gewalt der Siedler und der israelischen Besatzungstruppen ebenfalls zu. Im Flüchtlingslager Jenin wurden allein 100 Häuser zerstört, die Menschen vertrieben. Das gleiche geschieht in anderen palästinensischen Flüchtlingslagern im ganzen Westjordanland.

Im Libanon bombardiert Israel trotz einer vereinbarten Waffenruhe täglich, und nahezu täglich werden auch Menschen getötet. Israel spricht immer von Hisbollah-Lagern und/oder Hisbollah Kämpfern – nie werden Beweise vorgelegt. Die Hisbollah hält sich zurück, es gibt wenige Stellungnahmen. Wenn jemand spricht, dann ein offizieller Vertreter wie Generalsekretär Naim Qassem oder der Parlamentsabgeordnete Ali Fayyad. Die Hisbollah ist bereit, mit der libanesischen Armee zu kooperieren.

Es sei die Aufgabe der libanesischen Staatsführung, Israel aus dem Land zurückzudrängen und die anhaltenden Angriffe Israels zu stoppen, so die Hisbollah. Naim Qassem allerdings sagte auch, die Geduld der Hisbollah wäre nicht ewig und die Hisbollah werde sich nie unterwerfen und sich nie dem Druck von Israel, den USA oder dem Ausland beugen.

Welche offiziellen Stellungnahmen kamen aus den umliegenden Staaten zu den Angriffen Israels?

Die Ablehnung des israelischen Angriffs auf den Iran war übereinstimmend bei den Golfstaaten, bei Ägypten, der Türkei und dem Libanon. Irak kritisierte, dass israelische Jets durch den irakischen Luftraum flogen, obwohl Irak das untersagt hatte. Es ist festzustellen, dass die Wiederannäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien, die 2023 von China mit Unterstützung des Irak und Omans zustande kam, weiter Bestand hat.

Die Vereinigten Arabischen Emirate äusserten sich allerdings vage, sie haben enge Kontakte mit Israel. Und Syrien hat sich gar nicht offiziell geäussert. Die aktuelle Administration ist dem Iran sehr feindlich gesonnen.

Alle, die sich äusserten, warnten vor einer Destabilisierung der Region, insbesondere die Angriffe auf die Nuklearanlagen wurden kritisiert. Die Staaten der Region haben noch ein Verständnis von und Respekt vor der Uno-Charta und internationalem und humanitärem Recht. Mehr als Israel sowieso, mehr auch als die USA und Staaten wie Grossbritannien, Frankreich und Deutschland. Sie verstehen, dass das internationale Recht auch ihre Interessen schützt. Gleichzeitig konnten sie zusehen, wie es auch ihnen ergehen kann, wenn sie sich nicht dem Willen Israels und der USA beugen.

Gibt es Stellungnahmen der Arabischen Liga oder der Organisation Islamischer Staaten?

Als die US-Tarnkappenbomber B 2 Spirit die Angriffe auf die iranischen Nuklearanlagen Natanz, Fordow und Isfahan flogen, fand in Istanbul ein Aussenministertreffen der Organisation der Islamischen und arabischen Staaten statt. Die Angriffe der USA und Israels wurden scharf verurteilt, die Aussenminister stärkten Iran deutlich den Rücken. In Anwesenheit des iranischen Aussenministers Abbas Araghchi fand ein Sondertreffen mit einigen Staaten statt, das vom türkischen Präsidenten Erdoğan geleitet wurde.

Es muss daran erinnert werden, dass Araghchi gerade von einem Treffen in Genf gekommen war, wo er mit den Aussenministern der E3 (Deutschland, Frankreich, Grossbritannien) und der EU-Aussenbeauftragten Kallas gesprochen hatte. Und er hatte über die Folgen des israelischen Angriffs auf Iran vor dem Uno-Menschenrechtsrat gesprochen. In so eine Situation hinein tritt die USA zugunsten Israels in den Krieg gegen Iran ein. Araghchi kommentierte das auf X, vormals Twitter: «Letzte Woche verhandelten wir mit den USA, als Israel beschloss, diese Diplomatie zu sprengen.

Diese Woche sprachen wir mit den E3/EU, als die USA beschlossen, diese Diplomatie zu sprengen. Welchen Schluss würden Sie daraus ziehen?» Und in einem weiteren Kommentar bedankte sich der iranische Aussenminister für die Unterstützung der islamischen und arabischen Staaten und schrieb, es gäbe «beispiellosen Zorn und breite Solidarität in der islamischen Welt», während der Westen angesichts der «israelischen Grausamkeiten – nicht nur gegen Iran, sondern gegen Muslime in der ganzen Region – wegsieht.» Der Westen solle das zur Kenntnis nehmen, so Araghchi: «Er hat seinen moralischen Kompass komplett verloren.»

Netanjahu scheint eine kriminelle palästinensische Organisation zu unterstützen, die gegen die Hamas kämpfen soll. Wissen Sie etwas darüber?

Es handelt sich um die Abu Shabab Miliz, die seit langem von Israel – und vermutlich auch von westlichen Geheimdiensten, vielleicht auch von den Emiraten und den Saudis finanziert und bewaffnet wird. Es gibt Stimmen in israelischen Medien, die diese Truppe bereits als potenziellen Nachfolger der Hamas im Gaza-Streifen sehen.

Die Abu Shabab Kämpfer haben schon an anderen Orten – mindestens in Syrien – mit dem Islamischen Staat kooperiert. Yasser Abu Shabab und seine Brüder gehören zu einem Beduinenstamm, der im Süden des Gaza-Streifens, Rafah, operiert. Es sind Kriminelle, sie schmuggeln alles; es sind Diebe, sie haben Uno-Lastwagen mit Hilfsgütern überfallen und alles gestohlen. Es sind Söldner, die für diejenigen töten, die sie bezahlen. Ein Gericht der Hamas hat Yasser Abu Shabab Anfang Juli zehn Tage Zeit gegeben, um sich der Hamas zu ergeben. Dann wird es einen Kampf geben.

Frau Leukefeld, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
Quelle: https://zgif.ch/
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