Hunderte Organisationen warnen: EU-Kommission plant massive Deregulierung
Infolge der „State of the Union“-Rede von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) am 10. September haben 470 Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen sowie Gewerkschaften vor einer massiven Deregulierungsoffensive der EU-Kommission gewarnt. Die EU-Kommission plane eine „beispiellose Welle drastischer Kürzungen bei Vorschriften zum Schutz von Arbeitnehmerrechten, sozialen und Menschenrechten sowie digitalen Rechten und der Umwelt“.
Das gemeinsame Statement führt eine Reihe von Bereichen an, die von Gesetzgebungsvorhaben der EU-Kommission unter dem Schlagwort der „Vereinfachung“ erfasst werden. Die Einhaltung von Nachhaltigkeitskriterien und Menschenrechten in globalen Lieferketten solle aufgeweicht werden, indem sie auf weniger Unternehmen Anwendung finden soll. Die Kommission habe vorgeschlagen, Umweltauflagen für die Gemeinsame Agrarpolitik zu entfernen. Auch Vorgaben zur Kohlenstoffdioxid-Reduktion würden gelockert. Die Kommission beabsichtige, „Mittel zur Armutsbekämpfung umzuwidmen“ zugunsten von Technologie- und Rüstungsindustrie.
Weiter fürchten die Organisationen, dass „Angriffe auf rechtsbasierte Vorschriften“ wie das Gesetz zu Künstlicher Intelligenz (KI) und ein geplantes Digitalpaket „Regeln untergraben“ könnten, „die unser gesamtes digitales Leben vor Schäden durch KI und vor Überwachung durch staatliche und unternehmerische Akteure schützen“. Befürchtungen in diese Richtung werden auch vom Digitalisierungsexperten Key Pousttchi bezogen auf die geplante Chatkontrolle der EU-Kommission geäußert. Mit der Begründung, „Kindesmissbrauch zu bekämpfen“ wolle die EU „private Chats scannen“. Es drohe „eine nie dagewesene Möglichkeit für Überwachung, Kontrolle und Zensur“.
Laut den zivilgesellschaftlichen Organisationen würden demokratische Grundsätze bei der Gesetzgebung von der EU-Kommission missachtet. Die Anwendung des „Dringlichkeitsverfahrens“ lasse keinen Raum für eine demokratische Debatte im Europäischen Parlament, wird die Kritik begründet. Konzerne erhielten „privilegierten Zugang“ bei der Kommission, um ihre „Wunschliste“ umzusetzen, kritisierte Kenneth Haar von der Initiative „Corporate Europe Obervatory“.
In ihrer „State-of-the-Union“-Rede betonte von der Leyen, „Europas Unabhängigkeit“ hänge von seiner Wettbewerbsfähigkeit ab. Dazu brauche es Entbürokratisierung und Innovation. Von der Leyen kündigte „massive Investitionen“ in „digitale und saubere Technologien“ an. Eine europäische Künstliche Intelligenz werde „unsere Industrien und Gesellschaften voranbringen, vom Gesundheitswesen bis zur Verteidigung“. Um Arbeitsplätze zu schützen, müsse die „Geschäftstätigkeit in Europa vereinfacht“ werden. Dies sei das Ergebnis von „strategischen Dialogen“, die die Kommission mit Schlüsselsektoren wie „Fahrzeug-, Chemie-, Stahl-, Pharma-, Verteidigungs- und Agrarindustrie“ geführt habe. Die Initiativen zur Vereinfachung („Omnibusse“) bedeuteten „weniger komplexe Vorschriften“.
Anlässlich eines Treffens der Kommissionspräsidentin mit Spitzenverbänden der deutschen Wirtschaft am 18. September versicherte von der Leyen in einer Rede, dass die „Wettbewerbsagenda“ „alles“ bestimme, was sie tue. „Gemeinsam mit den Verbänden und Unternehmen“ würde die EU-Gesetzgebung durchforstet, um festzustellen, was der Wirtschaft „das Leben schwer“ mache. Damit sich die Interessen der Wirtschaft in der Gesetzgebung realisieren könnten, „braucht es auch Ihr Gewicht“, sagte von der Leyen an die Adresse der versammelten deutschen Verbandsvertreter. Sie sollten ihre Interessen bei den EU-Institutionen einbringen.