Rolle rückwärts in der Sozialpolitik – Bündnis „AufRecht bestehen“ kritisiert Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD
Die SPD-Mitglieder haben der Bildung einer gemeinsamen Bundesregierung aus CDU, CSU und SPD die Zustimmung erteilt. Neben einer Hand voll Kröten, die es für Sozialdemokrat*innen mit der Koalitionsvereinbarung zu schlucken gab, sieht der Vertrag in Bezug auf die zukünftige Arbeits- und Sozialpolitik u. a. eine Ersetzung des Bürgergeldes durch eine „neue Grundsicherung“ vor. Das Bündnis „AufRecht bestehen“ kritisiert dies als sozialpolitische Rolle rückwärts. Die in der Bundesrepublik grassierende Kinderarmut will die künftige Regierung nur in homöopathischer Dosierung bekämpfen. Gleichzeitig will sie das Schonvermögen von Bezieher*innen der „neuen Grundsicherung“ deutlich einschränken. Der Vorrang der Vermittlung in Arbeit, egal zu welchen Bedingungen, soll wiederhergestellt und das Sanktionsrecht deutlich verschärft werden. Die Jobcenter sollen ferner den Schutz der bestehenden Wohnung schneller unterlaufen können. Es ist allerdings absehbar, dass die Zahl der Arbeitslosen auf diese Weise nicht verringert werden wird. Ernsthafte Fortschritte bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Spaltung sind durch die Umsetzung der Koalitionsvereinbarung ebenfalls nicht zu erreichen.
Das Bündnis von Erwerbslosengruppen und -organisationen sowie Sozialberatungsstellen kritisiert, dass die wenigen mit der Einführung des Bürgergeldes verbundenen Verbesserungen des Bürgergeldgesetzes großenteils wieder abgeschafft werden sollen. Das war zweifellos das Ziel der von CDU/CSU, der FDP, der AfD und Teilen der Arbeitgeber vor der Wahl betriebenen und von manchen Medien willfährig aufgegriffenen Hetzkampagne gegen Bürgergeldbeziehende. Doch eine schnelle Vermittlung in irgendeinen Helferjob oder verschärfte Sanktionen schaffen keine neuen Arbeitsplätze – erst recht keine, von denen die Betroffenen leben könnten. Sie verhelfen auch niemand zu einer beruflichen Qualifikation oder zu einer besseren Kinderbetreuung, die für eine Arbeitsaufnahme aber oftmals gerade erforderlich wären.
Auch die neue Regierung wird die klaren Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zum Sanktionsrecht beachten müssen: Sanktionen über 30 Prozent der Regelleistung sind danach nur zulässig, wenn eine angebotene Arbeitsstelle tatsächlich dazu taugt, dass damit der Lebensunterhalt mit einem Erwerbseinkommen gesichert werden kann. Eine angebotene Stelle muss außerdem sofort angetreten werden können.
Die Abschaffung der Karenzzeit fürs Vermögen und die Einschränkung der Anerkennung der vollen Wohnungskosten führen ferner dazu, dass sich für viele Menschen die existenzielle Unsicherheit vergrößert. Dies betrifft beispielsweise Arbeitskräfte mit Niedrigeinkommen, die ihren kargen Lohn durch Leistungen des Jobcenters aufstocken müssen, ebenso viele Langzeitarbeitslose, Alleinerziehendende und Kranke. Sie alle müssen fürchten, alsbald nachdem sie Leistungen vom Jobcenter beantragt haben, ihre Wohnung zu verlieren und ihre Ersparnisse weitgehend aufbrauchen zu müssen.
Darüber hinaus muss die Methodik, mit dem die Höhe der Regelsätze ermittelt und fortgeschrieben wird, aus Sicht des Bündnisses „AufRecht bestehen“ endlich überarbeitet werden. Das Verfahren ist seit langem höchst kritikwürdig, weil durch verschiedene willkürlich anmutende Festlegungen verhindert wird, dass die Regelsätze ein menschenwürdiges Existenzminimum lebensnah abbilden. Auch eine zeitnahe Berücksichtigung der jährlichen Preissteigerungen ist damit nicht möglich. Doch eine entsprechende Reform unterbleibt weiter. Abzusehen ist, dass ohne eine solche grundlegende Reform der Regelsatzbemessung die mit den Regelsätzen verbundene Kaufkraft in den nächsten Jahren weiter abnehmen wird.
Eine Kommission soll außerdem Möglichkeiten der Zusammenlegung von Wohngeld und Kinderzuschlag prüfen und diese schon zum Herbst des Jahres vorlegen. Angeblich, um mehr Arbeitsanreize zu schaffen, an denen es ja für die Arbeitgeber und ihre politische Lobby eigentlich immer mangelt. Kinderarmut will die Regierung dagegen nur in sehr kleinen Schritten bekämpfen – es soll fünf Euro mehr für den Teilhabebetrag des Bildungs- und Teilhabepakets geben. Außerdem hat die neue Regierung angekündigt, das Kindergeld regelmäßig zu erhöhen.
Der Mindestlohn soll allein durch freundliche Beobachtung der dafür zuständigen Mindestlohn-Kommission auf 15 Euro steigen – irgendwann. Vielleicht gibt es sogar eine Reform der Besteuerung kleiner und mittlerer Einkommen, falls die Haushaltslage des Bundes das hergibt. Die Senkung verschiedener Unternehmenssteuern ist dagegen beschlossene Sache.
Insgesamt transportiert der Koalitionsvertrag eine erhebliche soziale Schieflage. Die Reichen werden reicher, während Arbeitslose, Alleinerziehende und andere benachteiligte Bevölkerungsgruppen verarmen. Darüber hinaus enthält er mit der zunehmenden Verschärfung der Kontrollmechanismen im System sozialer Sicherung repressive Elemente, die den Zugang zu Sozialleistungen einschränken und Antragstellende zu gläsernen Bürger*innen degradieren werden. Dies geht einher mit dem Abbau von Rechten für Asylsuchende und Migrant*innen, u. a. dem Ausschluss von ukrainischen Geflüchteten von den Grundsicherungsleistungen. Damit spielen die Koalitionäre in spe der rechtspopulistischen AfD die Themen für die nächste Legislaturperiode in die Hände.
Das Bündnis „AufRecht bestehen“ bewertet die sozialpolitische Agenda der GroKo in Gründung als rückwärtsgewandt, als Rückkehr zum alten Hartz-IV-System und als Politik der Entsolidarisierung der Gesellschaft.
Weitere Auskünfte:
Helga Röller, Tel. 0152 53847200 und
Frank Jäger, Tel. 0176 41710604
Das Bündnis ‚AufRecht bestehen‘ wird getragen von: Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg (ALSO), „ARBEITSLOS – NICHT WEHRLOS“ Wolfsburg (ANW), BASTA!, Bundesarbeitsgemeinschaft Prekäre Lebenslagen (BAG-PLESA), Bundes-Erwerbslosen-Ausschuss Gewerkschaft ver.di, Gewerkschaftliche Arbeitslosengruppe im DGB-KV Bonn/Rhein-Sieg, Gruppe Gnadenlos Gerecht Hannover, Frankfurter Arbeitslosenzentrum e.V. (FALZ), Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS), Tacheles e.V. Wuppertal, Sozialberatung Widerspruch e.V. Bielefeld und anderen örtlichen Bündnissen und Initiativen