Über Gedenken und Zumutungen

Über Gedenken und Zumutungen

Ich gebe zu, dass ich mich in der Vergangenheit nie sonderlich für Gedenken, Gedenktage, Denkmäler und ähnlich vermeintlich Rückblickendes interessiert habe. Das Verharren an Steinen und Gedenkstätten erschien mir stets als Zeitverschwendung und so war mein politisches Wirken ausschließlich nach vorn gerichtet und beschäftigte sich mit Gegenwarts- und Zukunftsfragen. Das einzig Brauchbare, was ich je für die Gedenkkultur vollbracht habe, war das „Besprechen“ eines Stolpersteines für Georg Schumann in Leipzig.

In diesem Jahr nahm ich zum ersten Mal in meinem Leben aus eigenem Antrieb an einem wichtigen Gedenken teil. Gemeinsam mit vielen Freunden und Mitstreitern, welche die Sorge um den Frieden und die Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen eint, setzte ich am 9. Mai dieses Jahres in Berlin ein Zeichen des Gedenkens an die zahlreichen sowjetischen Opfer des deutschen Faschismus.
Dem organisierten Gedenken ging eine Sammelaktion voraus, in deren Verlauf über 1000 Euro für die Blumen und Ehrenkränze eingeworben wurden, die wir vor der „Trauernden Mutter“ am Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow niederlegten.

Ich hätte mir vor Jahren, als in meinem „alten“ Land die Gedenkveranstaltungen noch staatlich verordnet wurden und sich meine Begeisterung für die sowjetischen Besatzer in Grenzen hielt, niemals träumen lassen, dass ich jemals aktiver Teil einer derart berührenden Veranstaltung werden könnte.

Den Grund für mein spätes Engagement haben andere geliefert. Eine sogenannte Russlandversteherin (einzig wahres Unwort des Jahres 2014) bin ich erst seit der aktiven Befassung mit dem feindseligen Ton und der einseitigen Schuldzuweisungen zulasten Russlands innerhalb unserer Medienberichterstattung zur Ukraine-Krise. Ich könnte das exakte Datum nennen, aber ich möchte es bei einer kurzen Erinnerung belassen.

Es war die 1000fache mediale Falsch-Darstellung eines ostukrainischen Kämpfers, der auf dem Trümmerfeld der MH17 angeblich „triumphierend“ einen Teddybären in die Luft hielt. „Gorillas zum fürchten“ titelte damals der WDR in vorauseilender Manier und in kompletter Unkenntnis der wahren Umstände und das ZDF nannte die „pro-russischen Separatisten“ verallgemeinernd Plünderer.

Mich interessiert in dem Zusammenhang nicht das absurde Geschmiere von Springer oder anderer Verlage mit eingeschränkter Pressefreiheit. Nur der organisierte öffentliche Widerspruch und der Boykott mit dem Geldbeutel hilft gegen eine meinungsbildende Maschinerie, die keinem journalistischen Ethos folgt oder gar der Wahrheit verpflichtet ist.

Die Alimentierung derartiger Ausfallerscheinungen innerhalb öffentlich-rechtlicher Medienanstalten muss allerdings weiterhin kritisch hinterfragt werden. Die Öffentlich-Rechtlichen haben vom Gesetzgeber einen eindeutigen Auftrag und genießen keinen Tendenzschutz, auch wenn das die versammelten fossilen Parteigranden in den Gremien vielleicht gerne hätten. Der Auftrag besteht unter anderem darin, dass veröffentlichte Informationen journalistischen Ansprüchen zu genügen haben sowie Objektivität, Unparteilichkeit, Ausgewogenheit und Meinungsvielfalt (§ 11) wiederspiegeln.

Der Jahrestag des Endes des 2. Weltkrieges wurde von allen beitragsfinanzierten Rundfunkanstalten bereits im Vorfeld ausgiebig für feindselige Attacken gegen Russland und den russischen Präsidenten Putin missbraucht. Angesichts der Tatsache, dass es heute die Täterenkel wieder vermehrt wagen, dem Land, welches am grausamsten unter der deutschen Aggression gelitten, die größte Opferzahl zu beklagen und den Hauptanteil an der Befreiung beanspruchen darf, anlässlich dieses wichtigen Gedenktages den Respekt zu verweigern, gibt zu denken.
Hätte man diese penetrante Berieselung aus rein ethischen Gesichtspunkten nicht mal für ein paar Tage aussetzen können?
So etwa, als wäre Karfreitag und angesichts der Leiden Christi herrschte Tanzverbot?

Bereits die absurde Berichterstattung über das Begehren einer zahlenmäßig überschaubaren russischen Biker-Truppe, an den Gedenkfeierlichkeiten in Berlin teilzunehmen, nahm paranoide Züge an und gipfelte in sich gegenseitig überbietenden Schmähungen bis hin zu einem ekelhaften und Züge von Volksverhetzung tragenden Kommentar eines Mitarbeiters des Deutschlandfunkes, dem ein Mitstreiter daraufhin eine saftige Programmbeschwerde widmete. Wenn der deutsche Herrenmensch, dem russischen Pöbel, der noch nicht einmal eine vernünftige Autobahn bauen kann, mal eben zackig beibringen will, wie er kultiviert seine 27 Millionen Toten zu betrauern hat, dann ist es wieder an der Zeit verdammt wachsam zu sein.

Schlussendlich wurden Dank der unterirdischen „diplomatischen“ Attacken und der entsprechenden Werbeblocks innerhalb deutscher Qualitätsmedien aus zwei Dutzend Bikern mehrere Hundert, die sich aus ganz Europa solidarisch anschlossen, um an den Feierlichkeiten teilzunehmen.
Die von den zahlreichen deutschen Zensoren russischer Gedenkkultur panisch gefürchteten Stalin-Fahnen waren weit und breit nicht zu sehen.

Auch die übrigen Programme der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten waren in der Woche des 70. Jahrestages nicht dazu geeignet, Gedenken zuzulassen. Man versteckte die russlandkritischen Beiträge unter anderem auch in Kultursendungen wie ttt und Kulturzeit, um sich möglichst flächendeckend und zusätzlich zu den Nachrichten auch in Reportagen oder Geschichten an vermeintlichen Defiziten des heutigen Russlands (Homophobie) und am immer wieder kolportierten Bild des hässlichen Russen der Nachkriegszeit (Vergewaltigungen) abzuarbeiten. So widmete sich der MDR in der Kultursendung Artour am 07.05.2015 dem Massenselbstmord von Demmin, in dessen Verlauf tausende Deutsche in den Freitod gingen – aus Angst vor der Roten Armee.

ARD- und ZDF-Korrespondenten wurden nicht müde, eine vermeintliche Isolation Russlands herbeizureden, angesichts der Tatsache, dass der Westen – oder besser gesagt die gesammelten NATO-Vertreter – kollektiv in Anstandsfragen versagten und den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges fernblieben.
In völliger Ausblendung aller Möglichkeiten, die sich dem interessierten Rezipienten bieten, die Feierlichkeiten in Moskau zu verfolgen, wurde von leeren Rängen phantasiert und die reichlich anwesenden hohen Vertreter der „restlichen“ Welt blieben, mit Ausnahme des chinesischen Präsidenten, unerwähnt.

Das ärgerliche Blockdenken der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten spiegelte sich einmal mehr in der Berichterstattung wieder und zeigte erwartungsgemäß die völlige Unfähigkeit der Programmverantwortlichen zur objektiven, unparteiischen und ausgewogenen Berichterstattung. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die entsprechenden Sendungen im Nachhinein anschaut und miteinander vergleicht. Mediatheken sei Dank.

Selbst die 40-minütige Rede von Heinrich August Winkler zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges vor dem Bundestag wurde von ARD und ZDF zwar synchron, aber sicher ganz unbeabsichtigt und voller Unschuld, auf Russland, die Krim und Russlands Rolle im Ukrainekonflikt fokussiert. Der Tag des Gedenkens an die Millionen Opfer des deutschen Aggressors fiel der gewohnt ideologisch intendierten Russlandkritik zum Opfer und rückte somit aus dem Zentrum der Berichterstattung.

Man muss sich wirklich fragen, ob die Mitarbeiter der zuständigen Redaktionen die entsprechende Nachrichtengebung freiwillig und ohne den Hauch des schlechten Gewissens verabreichen oder ob da tatsächlich eine Art Weisung dahinter steht. Ich verstehe diesen Konformismus nicht.
Für Leser, die bereits mit der Verschwörungskeule bereit stehen: Journalisten wie Jakob Augstein, Harald Schumann und einige Ex-Mitarbeiter der Öffentlich-Rechtlichen im Ruhestand, beklagten bereits mehrfach öffentlich eine gewisse redaktionelle Unfreiheit.

Die Tatsache, dass die versammelte Gilde deutscher Russlandberichterstatter, die beständig die angeblich mangelnde oder nicht vorhandene Pressefreiheit in Russland beklagt, just IN und AUS ebendiesem Land unverdrossen und vor allem völlig ungestört von staatlichen Reglements, russlandfeindliche Töne, teils hanebüchene Unwahrheiten und penetranten NATO-Gefälligkeitsjournalismus in die Welt posaunen darf, ist jedenfalls mit Logik nicht zu begründen. Anders verhält es sich mit dem Fakt, dass die Organisation, der man das entsprechende Ranking zu verdanken hat, großzügig von einer US-amerikanischen Organisation gesponsert wird.

Konflikte im In- und Ausland beginnen immer mit gezielter Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Die Marschrichtung der Meinungen, die sich die Bürger z.B. vom unerschrockenen Gewerkschafter, vom griechischen Finanzminister, von Präsidenten diverser Staaten oder von ganz einfachen Kopftuchträgerinnen zu bilden haben, wird von Massenmedien vorgegeben.

Geplante Kriege, Erhöhung der Rüstungsausgaben und die Stigmatisierung anderer Staaten und deren Repräsentanten, Religionen und Kulturen erfahren nur durch die gezielte Beeinflussung der öffentlichen Meinung Rechtfertigung.
Gerade die Deutschen sollten die gesteuerten Entwicklungen noch in guter Erinnerung haben.

Ein sehr kluger Mensch hat folgende Sätze formuliert und diese Ansage fasst in wenigen Sätzen zusammen, was unter anderem auch die Arbeit der Ständigen Publikumskonferenz ausmacht. Wer also weiterhin der Meinung ist, dass das Anprangern permanent und penetrant gestreuter bedauerlicher Einzelfälle der falschen Bilder, der verkürzten Zitate, der falschen Übersetzungen, der falschen Behauptungen uswusv. Krümelkackerei sei, der möge in aller Ruhe Revue passieren lassen, welche kriegsvorbereitenden Lügen in der Vergangenheit – vom Reichstagsbrand bis zur Brutkastenlüge – durch mediale Verstärkung in das kollektive Bewusstsein gelangten, sich dort als ultimative Wahrheit verfestigte und die Menschen schlussendlich mit Zustimmung reagieren ließen. Sei es für den totalen Krieg, für die Teilnahme an kriegerischen Handlungen gegen andere Völker, den Kampf gegen andere Kulturen und Religionen oder auch für den Rauswurf eines geplünderten Landes aus der europäischen Währungsgemeinschaft.

„Der Kampf um die Wahrheit – auf den es im Mediendiskurs hinausläuft – ist nicht allein ein Kampf um die Demokratie, sondern der wichtigste Kampf für die Zukunft nicht nur unserer Gesellschaft, sondern für das Überleben der Menschheit im Ganzen. Was pathetisch klingt, ist nichts anderes als nüchterne Schlussfolgerung. Über die gesamte Geschichte der Menschheit dienten Lügen und Desinformation der Machtsicherung und Bereicherung der Herrschaftselite – ganz gleich ob religiöser oder weltlicher Art -, die nicht nur nicht davor zurückschreckte, ganze Völker gegeneinander aufzuhetzen, sondern das Mittel des Krieges ganz gezielt benutzte, um eigenen Vorteil daraus zu schlagen. Waren diese Verbrechen schon in der Vergangenheit von gigantischem Ausmaß, so könnten sie heute das Ende der Menschheit bedeuten. Nur die Wahrheit – und zwar die umfassende, verfügbare Wahrheit – kann Menschen und damit demokratische Gesellschaften befähigen, die für sie richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.“