Interpretations-Kapriolen um die Schlachten von Kursk

Quelle Beitragsbild: imago images
Pünktlich zum 85. Jahrestag des Wehrmachts-Überfalls auf Polen am 1. September 1939 brachte der Zürcher Tagesanzeiger am 30. August 2024 unter dem Titel „Putin verdreht die Geschichte der Schlacht von Kursk“ einen Beitrag des promovierten Historikers Joachim Käppner, deren ungefähr hundert Zeilen von A bis Z höchst erstaunliche Gedanken-Kapriolen bzgl. einiger kriegerischer Aspekte in der Vergangenheit und Gegenwart der Deutschen und der (Sowjet-) Russen vollbringen.
Ein Kommentar von Benjamin Kradolfer
Versehen mit drei historischen Fotografien von 1943, dem Jahr der grauenhaften Entscheidungsschlacht bei Kursk (einer von Wehrmachtspanzern vor Kursk, zwei von posierenden Angehörigen der Roten Armee) und in einigermassen objektivem Sprachduktus gibt der Artikel einen kleinen Abriss der Geschichte des Wehrmachts-Rückzugs nach dem Untergang von General Paulus‘ 6. Armee bei Stalingrad und, etwas ausführlicher, derjenigen dieser „grössten Panzerschlacht der Geschichte“; „eine der brutalsten im Zweiten Weltkrieg“ sei sie gewesen, und: „Aber die Deutschen kamen nicht durch, die Rotarmisten stoppten sie, unter furchtbaren Verlusten, die später in der UdSSR niemals beziffert werden durften. Sie sollen mindestens fünfmal höher als die deutschen gewesen sein.“
Abgesehen davon, dass wir uns längst daran gewöhnt haben, die Gesamtzahl der Opfer des Ukraine-Kriegs kaum je vermittelt zu bekommen, und auch der Autor kein Wort über sie verliert, streut er in seinen Geschichts-Abriss auch nicht ganz so neutrale Bemerkungen zu den aktuellen Kriegsgeschehnissen in der Region Kursk ein, so z.B. dass der ukrainische Vorstoss auf Kursk „für den russischen Kriegsherrn (…) eine Blamage“ sei, ohne diese Aussage weiter auszuführen oder zu begründen oder in irgendein Verhältnis zu setzen – implizit aber scheint es ihm offenbar ebenso wie den westlichen Kriegsherren in keiner Weise bedenklich, dass es ausgerechnet deutsche Panzer sind, die da nach einundachtzig Jahren aufs Neue Kurs gen Kursk halten.
Ausser dieser einseitigen Spitze gegen den Kreml ist in dem Text nur eine einzige Passage zu finden, welche die im Titel herausgestellte Geschichtsklitterung Putins auf den Punkt bringt: „Damals wie heute griffen ‚Faschisten‘ bei Kursk an, tönt es in den Staatsmedien, und nicht anders als 1943 werde es ihnen jetzt ergehen. Damals freilich setzte sich die Rote Armee, setzten sich darin Russen wie Ukrainer und andere Sowjetvölker gegen einen Angriffskrieg zur Wehr. Jetzt ist es Russland, das sein Nachbarland überfallen hat“. So erfreulich (und leider alles andere als selbstverständlich) es ist, dass der Historiker auch Russen als bedauernswerte Kriegsopfer zu bedenken vermag, stutzt man doch etwas angesichts dessen, dass dies dann schon die ganze „Verdrehung“ gewesen sein soll, welche die Schlagzeile so grossspurig verspricht – rein völkerrechtlich zwar nicht falsch, aber: Lässt uns der Titel nicht Ungeheuerlicheres erwarten, das z.B. den andern völkerrechtswidrigen Angriffskriegen der letzten drei Jahrzehnte und ihrer medialen Vermittlung im westlichen Mainstream zumindest gleichkäme oder sie gar in den Schatten stellte?
Aber es kommt noch besser. Denn allein schon, dass dem Überfall Putins auf die Ukraine eine reichlich andere Vorgeschichte vorangegangen ist als demjenigen der Nazis auf die Sowjetunion, und dass dem Historiker all die historischen Tatsachen, die sich dazu erzählen liessen, keinerlei Erwähnung wert sind, könnte leicht als ebensolche Verdrehung der Geschichte gesehen werden, nur in umgekehrter Richtung. Doch damit nicht genug, bringt es Herr Plättner fertig, unter demselben reisserischen Titel noch eine andere, wahrlich erstaunliche Jetztzeit-Neu-Interpretation der berühmt-berüchtigten Nazi-„Operation Barbarossa“ ins Spiel zu bringen: „Die Luftwaffe [der Wehrmacht] fügte den sowjetischen Staffeln schwere Verluste zu. Zu den Piloten gehörte auch Erich Hartmann, der bald als Jagdflieger-‚Ass‘ zum blonden Helden der Nazipropaganda werden sollte, er soll an einem Tag gleich sieben gegnerische Maschinen abgeschossen haben. Es ist eine bittere Pointe, dass ein dann hastig zurückgezogener und törichter Entwurf aus dem Verteidigungsministerium der Bundesrepublik Deutschland auch Hartmann kürzlich zu jenen Soldaten zählen wollte, welche die Traditionspflege durch die Bundeswehr verdient hätten“.
Hoppla, verehrter Herr Plättner! Von wegen nur „zählen wollte“ und „zurückgezogen“, oh nein: Die entsprechende „Weisung zur Herausgabe der ergänzenden Hinweise zu den Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege der Bundeswehr“ hat der „Abteilungsleiter Einsatzbereitschaft und Unterstützung Streitkräfte“ Kai Rohrschneider unter dem Datum 12. Juli 2024 unterzeichnet, und sie enthält ganz zuletzt eine Liste mit „Beispielen“ für „vorbildliche soldatische Haltungen und Handlungen aus anderen Epochen – einschließlich des Zweiten Weltkriegs“. Neben ein paar Helden des Ersten Weltkriegs (gesondert angeführt unter der Sammelformel „Einzelbeispiele vor 1955“) werden da auch 23 vorbildliche Wehrmacht-Veteranen der Bundeswehr genannt, wobei nur dreien davon Widerstand gegen den Nazi-Oberbefehl attestiert wird, zwei waren Sanitäts-Offiziere, während das vom Historiker herausgepickte Jagdflieger-„Ass“ Hartmann, der „blonde Held der Nazipropaganda“, nur einer von den übrigen 18 (achtzehn) ist, die laut Verfasser der Weisung im Zweiten Weltkrieg nichts weiter waren als „Generalstabsoffiziere“, „hochdekorierte Frontoffiziere“, „erst-“ oder „zweit-“ oder „einer der erfolgreichsten Jagdflieger der Militärluftfahrt“ (in Klammern dazu: „352“ bzw. „301“ bzw. „275 Luftsiege“) und dergleichen mehr – lauter Generäle, Oberste und Generaloberste etc. (unter dem „Korvettenoffizier“ macht’s die Liste nicht), und jeweils 6 bis 8 Zeilen reichen, um ihre „soldatischen Haltungen und Handlungen“ unter Hitlers Oberkommando aus heutiger Sicht als mit den Werten der Bundeswehr mehr als kompatibel auszuweisen.
Unweigerlich lässt die Lektüre dieser „ergänzenden“ Vorbild-Liste die Assoziation aufkommen, sie könnte das Resultat einer expliziten Suche mit dem erklärten Ziel sein, aus dem Bestand des bisher offiziell verpönten Wehrmachts-Offizierskorps im Zweiten Weltkrieg nunmehr Exemplare mit Vorbild-Tauglichkeit zu ermitteln – für den Fronteinsatz gegen Putins Russland? Aber aus welchen Impulsen heraus auch immer diese Ergänzungen angeordnet wurden: um eine Geschichtsrevision in Reinkultur handelt es sich auf jeden Fall, und der „Verteiler“ des Dokuments nennt nicht weniger als 23 illustre Adressaten: „Bundesämter“ (z.B.“für das Personalmanagement der Bundeswehr“) und andere staatliche „Büros“ (z.B. „Generalinspekteur der Bundeswehr“), Abteilungsleiter (z.B. „Planung“, „Militärstrategie“, „Einsatz und Operationen“, „Recht und Organisation“, „Personal“), „Kommandos“ (z.B. „Heer“, Marinekommando“, „Luftwaffe“, „Streitkräftebasis“) bis hin zum „Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr“, dem „Katholischen Militärbischofsamt“, dem „Militärrabbinat“ und dem „Bundessprachendienst“.
Wer es genau wissen will, kann die ganze Weisung, versehen mit dem Siegel des „Bundesministeriums der Verteidigung“, Wort für Wort online nachlesen:
Das alles bloss eine „bittere Pointe“? Und nicht viel eher des Historikers Plättner allzu pointierte Bewertung eines von zahlreichen Beispielen für Nazi-Gräuel relativierenden Geschichts-Revisionismus, der die Staatsraison der aktuellen BRD zunehmend kennzeichnet? Wozu wohl hat der Tagi-Autor gleich zu Beginn seines Elaborats darauf hingewiesen, dass die aktuellen „Kämpfe westlich von Kursk trotz der schwachen Vorstellung seiner Truppen Putin Anlass für viel Propaganda bieten“, und damit das böse, böse Stichwort schon mal in der angesagten Bedeutung etabliert, wenn nicht zum Zweck, dass der Konsument beim Weiterlesen diese westliche Geschichts-Verdrehung zu Propaganda-Zwecken ja nirgendwo anders verortet als in Russland?
Aber auch damit noch immer nicht genug: Um nochmals exklusiv Putins Umgang mit Geschichte anzuprangern, rundet Herr Käppner seinen historisierenden Ausflug in die Endphase des vor genau 85 Jahren durch Deutschland vom Zaun gerissenen Weltkriegs auch noch mit folgender süffisanter Pointe ab: „Der Krieg in Europa dauerte noch bis Mai 1945. Aber nach Kursk stand fest, dass ihn die deutschen Streitkräfte nicht mehr gewinnen würden…“ – und Obacht, jetzt kommt’s: – „Das Feuer schlug nun immer mehr dorthin zurück, wo es entzündet worden war.“ Ende der Durchsage. –
Hoppla, Herr Käppner! Ist diese Tonlage für Transatlantiker wie Sie und die Redakteure des Tagesanzeigers sowie angesichts der insgesamt desolaten Lage der ukrainischen Gegenwehr nicht nur literarisch, sondern auch prophetisch etwas allzu sehr überambitioniert?