ISIS in Brüssel und kompromisslose Antworten in Syrien

ISIS in Brüssel und kompromisslose Antworten in Syrien
Dominic H – 22-03-2016 – Bildquelle: oe24.at
«Der Terror erfordert kompromisslose Antworten», betitelt am 22. März 2016 stellvertretender Chefredakteur Ulf Poschardt in der Zeitung ‹WELT› seinen Leitartikel zu den jüngsten Anschlägen in Brüssel. In seiner Analyse zur «Barbarei von Brüssel», welche allen Anschein nach der Terrormiliz ‹Islamischer Staat› (ISIS) zugeschrieben werden kann, findet man als Kritik gegenüber dem belgischen Staat die Worte: «Jeder rechtsfreie Raum kann in Zeiten gefranchister Terrorzellen und autonom agierender Extremisten die Keimzelle für Anschläge sein ….»
Die Attentate am Flughafen und in der Metro haben über 30 Todesopfer gefordert. ISIS hatte sich in einer Internet-Erklärung zu den Anschlägen von Brüssel bekannt und dies auch über ihre eigene Nachrichtenagentur ‹Amaq› kommuniziert. In der später verbreiteten Stellungnahme hiess es, dass «Soldaten des Kalifats» den «Kreuzfahrerstaat Belgien» angegriffen hätten, da dieser nicht aufhöre den Islam zu bekämpfen. Mit der Meldung verbunden wurde auch eine Drohung: «Wir versprechen den Kreuzfahrerstaaten, die sich gegen den Islamischen Staat verbündet haben, schwarze Tage, als Antwort auf ihre Aggression ….»
Es ging offensichtlich nicht um Belgien, denn das Land kann man sich kaum als bedeutenden Feind für die Terrormiliz vorstellen. Am 3. Dezember 2014 wurde allerdings in Brüssel unter dem Vorsitz von US-Aussenminister John Kerry eine gigantische Allianz gegen ISIS gebildet. Ein für die Vereinigten Staaten inzwischen bekanntes Vorgehen, da sie wie wohl darauf bauen, dass völkerrechtlich fragliche Kriege, mit einer unsinnig grossen Liste Verbündeter automatisch den Heiligenschein der Legitimität erhalten. 58 Länder verständigten sich damals in der Belgischen Hauptstadt auf eine gemeinsame Strategie zur Bekämpfung des angeblich unerwartet entstandenen islamischen Protostaats. So gesehen musste bei den jüngsten Anschlägen die Stadt Brüssel nicht für den Staat Belgien herhalte, sondern für eine vom Westen dominierte Anti-IS-Koalition. Ausserdem haben die Staatenbündnisse EU und NATO ihre Machtzentren in dieser Stadt.
Am Brüsseler Treffen der Koalition gegen ISIS nahm für die deutsche Bundesregierung auch Aussenminister Frank-Walter Steinmeier teil. Am Rande der Konferenz zog er seine Bilanz zum bisherigen «Einsatz» gegen ISIS: «Es gibt noch verdammt viel zu tun.» Wichtig sei es jetzt, ISIS den «ideologischen Nährboden» zu entziehen. Diese Aufgabe müssten islamische Staaten übernehmen und den Sympathisanten der Terrormiliz klar machen, dass ISIS «nicht im Namen des Islam» handeln würde.
Die Aussagen von Chefredakteur oder Aussenminister decken sich mit der grundsätzlichen Einstellung der westlichen Elite zur Frage des islamistischen Terrorismus und lassen sich auf drei Punkte reduzieren: eine unkritische Akzeptanz, dass eine «kompromisslose Antwort» Krieg bedeutet; die logische Schlussfolgerung, dass ein «rechtsfreier Raum» zur Keimzelle für Terrorgruppen wird; und die Überzeugung, dass der «ideologische Nährboden» von Gruppen wie ISIS nur ein falsch verstandener Islam sein kann.
Die kompromisslose Antwort
Der «Krieg gegen den Terrorismus» wurde nach den Anschlägen des 11. September 2001 zum Schlagwort der Administration des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush. Verstanden wurde darunter eine Bandbreite politischer und gesetzlicher Massnahmen, aber wie es sich herausstellte vor allem eine brutaler Angriffskrieg. Laut einer Studie der Friedensorganisation ‹IPPNW› sind diesem Krieg bisher weit über eine Million Menschen zum Opfer gefallen. Ende März 2009 erklärte die damalige US-Aussenministerin Hillary Clinton, dass der Begriff nun nicht mehr verwenden werde. Was auch immer der Westen seine «kompromisslosen Antworten» heute nennt – die aktuelle Bombardierung von Syrien und Irak im Kampf gegen ISIS wird allemal als ein Krieg gegen den Terrorismus wahrgenommen und auch so erklärt.
Die von den Vereinigten Staaten geführten Anti-Terror-Kriege haben auch im Jahr 2016 kein Ende in Sicht und im Verhältnis zum gigantischen Aufwand sind ihre Erfolge armselig. Innerhalb der letzten sechs Monate fanden 15 Terror-Attacken ausserhalb von Syrien und Irak statt (einschliesslich Brüssel), welche alle ISIS zugeschrieben werden. Der Grund für das Versagen könnte eine falsche Interpretation sein. Terrorismus ist eine Taktik – nicht eine bestimmte Gruppe von Menschen. Die Planer scheinen jedoch das Phänomen auf eine bestimmte Anzahl von «Terroristen» reduzieren zu wollen. Wäre dies möglich, wäre nach deren Eliminierung das Problem aus der Welt geschafft. Der Hegemon hat es jedoch auch nach eineinhalb Jahrzehnten noch nicht geschafft die Uhr auf den 10. September 2001 zurückzudrehen.
Terroranschläge finden sich auch nicht im Geschäftsbericht einer komplexen korporativen Organisationsstruktur mit Vorstand, Aufsichtsrat, Geschäftsführer und Zweigstellen. Dieses Bild wird jedoch allem Anschein nach systematisch in den Köpfen westlicher Wahlschafe aufgebaut und mit Namen wie «Al-Kaida» oder «ISIS» verknüpft. Einerseits dient die Vorstellung eines korporativen Terrorismus der Expansion der Anti-Terror-Kriege auf neues Territorium – falls gewünscht. Andererseits kann damit jeder wirkliche oder erfundene Tod eine «Führers» zum Erfolg hochstilisiert und medial bejubelt werden. Das Problem ist jedoch, dass wir es hier eher mit ungeschützten Markennamen zu tun haben. Wer sich heute in Afghanistan ISIS nennt, kämpfte gestern unter der ‹Taliban›-Marke. Wohin geht die Reise? Irak, Syrien, Afghanistan, Libyen und dann? Algerien, Somalia, Elfenbeinküste, Indonesien? Die Marken Al-Kaida und Coca-Cola waren gestern – ISIS als das Pepsi der neuen Generation von Terrorismus-Möchtegerns?
Als nachträgliche Korrektur und anscheinend aus Gründen der politischen Korrektheit wurde die militärische Grossoperation, welche die USA im Rahmen ihres Krieges gegen den Terrorismus begannen, von «Operation unendliche Gerechtigkeit» auf «Operation andauernde Freiheit» umgetauft. Weniger pompös und brutal ist das Vorgehen deswegen nicht. An der US-geführten Operation sind inzwischen etwa 70 Nationen beteiligt. In Afghanistan wurde der Krieg mit dem Etikett «Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe» versehen und die Führung der NATO gestellt, welche ihrerseits von den USA geführt wird. Etwa 60 Nationen – darunter EU- und NATO-Staaten – sind wiederum Teil der neuen Koalition gegen ISIS und bombardieren unter dem nicht gerade klangvollen Titel «Operation innere Entschlossenheit» seit August 2014 den Irak. Syrien wird inzwischen – zwar gegen geltendes Völkerecht – ebenfalls von etwa einem Dutzend Nationen dieser Allianz von oben herab mit Entschlossenheit gesegnet.
Indem sie ganze Städte in exotischen Ländern bombardieren um den einen oder anderen Terroristen für böse Taten im Werte-Westen zu bestrafen, schafft sich der Westen jedoch den Kollateralschaden von dauerhaften Hass auf die «Kreuzfahrer» durch Einheimische, die ursprünglich den Terrormilizen in ihrer Mitte – wenn überhaupt – oft nur milde Begeisterung entgegengebracht hatten. Zu Hause im Werte-Westen wird mit der Bombardierung ihrer Glaubensbrüder der muslimische Minderwertigkeitskomplex der Diaspora angefeuert – was auch nicht gerade einer Radikalisierung entgegenwirkt.
Seit 2001 – also lange vor es ISIS gab – nehmen sich mehrheitlich westliche Nationen nun schon die «andauernde Freiheit» überall dort ihre bombig kompromisslose Antwort zu geben, wo man es gerade für eine «unendliche Gerechtigkeit» hält. Statt von «andauernd» sollte der Westen lieber gleich von «ewig» sprechen – denn so lange wird es dauern den Terrorismus mit dieser bisher erprobten «inneren Entschlossenheit» zu besiegen.
Der rechtsfreie Raum
Im Hindukusch, mit ein paar Tausend Kämpfern, war 2001 der internationale Terrorismus noch überschaubar. Heute gibt es Terrorarmeen, welche die Welt in Schrecken versetzen. Wie konnte es dazu kommen?
Vor der massiven Unterstützung der Regierungsgegner in Afghanistan durch die USA gab es dort weder Al-Kaida noch Taliban. Vor den verheerenden Kriegen der USA und ihrer hauptsächlich westlichen Verbündeten gegen den Irak gab es dort keinen Al-Kaida-Ableger, aus dem später ISIS entstehen würde. Vor dem mit Hilfe von NATO-Bomben herbeigeführten Regierungssturz in Libyen, waren die Al-Kaida-Zellen schwach und ISIS existierte gar nicht. Ohne die vereinten Bemühungen der USA, der EU und regionaler Mächten die syrische Regierung zu stürzen, hätte sich die irakische Al-Kaida nie als ISIS ausbreiten können. Wer von den Gefahren eines rechtsfreien Raumes spricht, sollte sich fragen, wie viel davon weltweit vom Westen mit einem völkerrechtlich fragwürdigen bis eindeutig illegalen Vorgehen geschaffen wurde.
In Syrien wurde der Kampf gegen islamistische Extremisten bis 2011 nämlich mit Erfolg geführt. So liest es sich jedenfalls auch in einer von der Enthüllungsplattform ‹WikiLeaks› veröffentlichen Geheim-Depesche der US-Botschaft in Damaskus aus dem Jahr 2010. Die Amerikaner suchten damals die Zusammenarbeit mit Syrien im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und waren beeindruckt. Das Erfolgsrezept der syrischen Sicherheitskräfte war jedoch nie die sofortige Ausschaltung islamistischer Gruppen, sondern diese zuerst zu unterwandern und dann nur wenn notwendig und im geeigneten Zeitpunkt zuzuschlagen. Dass das syrische Vorgehen immer noch teilweise funktioniert, zeigt sich am Beispiel des mächtigen Milizen-Führers Zahran Alloush, der bei einem hochrangigen Treffen mit anderen Freischärler-Chefs – angeblich auf Grund von Insider-Informationen zu einem günstigen Zeitpunkt getötet wurde.
Die Europäische Union mit Brüssel als Hauptquartier trägt schwere Schuld, dass sich in Syrien seit 2011 ein rechtsfreier Raum gebildet hat, auf dessen ideologischen Nährboden der Terror gediehen ist, den Brüssel jetzt erfahren musste. Bereits am 18. August 2011 forderten EU und USA zeitgleich den syrischen Präsidenten Dr. Bashar al-Assad zum Rücktritt auf. Parallel dazu veröffentlichten die deutsche Bundeskanzlerin, Frankreichs Präsident und der britische Premier eine gemeinsame Erklärung, worin der syrische Staatschef aufgerufen wurde, «den Weg frei zu machen». Bei einer Plenartagung am 15. September 2011 schliesslich, forderte das EU-Parlament den syrischen Präsidenten und «sein Regime» auf, die Macht «mit sofortiger Wirkung» abzulegen.
Ende Juli 2012, als der Krieg in Syrien eskalierte, erklärten die EU-Aussenminister gemeinsam: «Das Regime wird fallen». «Deshalb sollten wir unsere Aufmerksamkeit stärker auf den Tag danach richten», meinte euphorisch der schwedischer Aussenminister Carl Bildt am Tag vor dem Brüsseler Treffen der Minister. Die EU-Staaten verschärften damals erneut ihre Sanktionen gegen die Regierung in Damaskus und berieten, wie sie die Opposition besser unterstützen könnten. Der damalige deutsche Aussenminister Guido Westerwelle jubelte gegenüber Journalisten über einen «Wendepunkt». Mit den seit Frühjahr 2011 fast monatlich verschärften Sanktionen übermittele die EU eine klare Botschaft, donnerte die EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton: «Assad muss gehen ….» Der niederländische Aussenminister Uri Rosenthal prophezeite, dass es nicht mehr eine Frage sei, ob, sondern nur noch wann der syrische Präsident abtreten werde. Nach seiner Ansicht war der tödliche Anschlag auf die syrische Militärspitze in der Woche zuvor ein Hinweis auf den «inneren Zerfall des Regimes». Für diesen Vertreter des Europas der Werte war also ein Terroranschlag gleichbedeutend mit einem Zeichen von «Zerfall».
Zum angeblichen Zerfall sickerte dann jedoch etwa einen Monat später durch, dass EU-Staaten daran womöglich nicht ganz unbeteiligt waren. Frankreich hatte mit Augenzwinkern spektakuläre Überläufer angekündigt. Der Star unter den Abtrünnigen war zu diesem Zeitpunt Riyad Farid Hijab. Anfang August – nach nur zwei Monaten im Amt – flüchtete der damalige syrische Regierungschef mit Familie und Vertrauten aus Syrien. Diplomaten, Armeeoffiziere und Abgeordnete hatten sich ebenfalls losgesagt. General Manaf Tlass – ein enger Freund des Präsidenten aus Jugendtagen – setzte sich nach Paris ab. Frankreichs Aussenminister Laurent Fabius bejubelte die wachsende Zahl der syrischen Verräter mit den Worten: «Das alles zeigt, dass Menschen verschiedenster Art entschieden haben, das Regime fallen zu lassen.» Doch die Überläufer hatten offenbar nicht nur politische Gründe. Europäische Länder hatten nach Berichten in der britischen Presse zusammen mit reichen Golfstaaten die hohen syrische Staatsbediensteten ganz einfach für den Heimatverrat bezahlt. Im Mai – bei einem Treffen von europäischen Diplomaten im Emirat Katar – wurden demnach die Vereinbarungen für substantielle Schmiergelder getroffen.
Dass der Westen damals schon hätte wissen können, welche Gefahr ein rechtsfreie Raum in Syrien in sich birgt, sagen uns Geheimpapiere aus den USA. In 2015 erzwang sich eine konservative US-amerikanische Stiftung per Gerichtsbeschluss den Zugang zu bisher als geheim eingestuften Dokumenten der US-Regierung. Unter den Papieren befand sich auch ein Geheimbericht aus dem Jahr 2012, der eine Lagebeschreibung zu Syrien enthielt. Schon damals zeichnete sich demnach die Entstehung von ISIS ab und es wurde festgehalten, dass die «Rebellion» eine deutlich «sektiererische» Form angenommen habe. Die treibenden Kräfte seien «Salafisten», «Muslimbrüder» sowie der irakische Ableger der Al-Kaida. Diese Terrororganisation habe den syrischen Aufstand von Anfang an «ideologisch und durch die Medien» unterstützt und durch ihn an Zulauf gewonnen, schrieben die Militär-Analysten. Dass die syrische Exil-Opposition von Mitgliedern der sunnitisch-islamistischen Bewegung ‹Muslimbruderschaft› dominiert wurde – dazu brauchte es ohnehin keinen Geheimbericht.
Im Mai 2013 kippten die EU-Staaten ihr Waffen-Embargo gegen Syrien und die politische Elite und ihre medialen Sprachrohre fragten sich, ob man angesichts eines Wiedererstarkens der syrischen Regierung die sogenannten «Rebellen» nun auch offiziell mit Waffen versorgen sollte. Für objektive Beobachter mit nur ein wenig Kenntnis der Lage war jedoch klar: Egal, wie viele Tonnen von Waffen geliefert würden – auf absehbare Zeit würde es die militärische Lage in Syrien nicht beeinflussen können und nur die Opferzahlen in die Höhe treiben. «Wenn die Europäer Waffen liefern, wird der Hinterhof Europas terroristisch, und Europa wird den Preis dafür zahlen», erklärte der syrische Präsident im Juli auch während seines Gesprächs mit der ‹Frankfurter Allgemeine Zeitung› und warnte vor dem «direkten Export des Terrorismus nach Europa». Wer heute über die Opfer von Brüssel weint, sollte sich auch diese prophetischen Worte von Dr. Assad vor mehr als zweieinhalb Jahren vergegenwärtigen: «Terroristen werden kampferfahren und mit extremistischer Ideologie ausgerüstet zurückkehren.»
Der ideologische Nährboden
In Syrien kämpfen eine grosse Anzahl radikal-islamistischer Gruppen gegen eine säkulare Regierung. Derzeit werden jedoch nur der syrische Al-Kaida-Ableger ‹Nusra-Front› und die Terrormiliz ISIS vom Sicherheitsrat der Vereinten Nation als Terrorgruppen definiert und aus legalistischen Gründen beide der Al-Kaida zugeordnet – aus dessen irakischen Ableger sie ursprünglich auch entstanden sind.
Nusra-Front betrachtet sich weiterhin als Teil der Al-Kaida – ISIS nicht mehr. Grundsätzlich haben beide Gruppen das Gleiche Ziel – ISIS eilt im gewissen Sinne voraus. Nusra-Front würde sich unweigerlich nach einem Sieg in Syrien dem «entfernten Feind», also dem Westen zuwenden – so wie es das Mutterhaus nach dem Sieg der US-unterstützten Regierungsgegner in Afghanistan tat. ISIS hat sich von Al-Kaida los gelöst, weil sich die Miliz erst dem «nahen Feind», also den muslimischen Staaten zuwenden und auf das Religons-Utopia nicht mehr warten will.
Dass die islamische Weltrevolution nur gewaltsam geschehen kann und muss, darin sind sich beide Gruppen jedoch einig. «Der Dschihad ist das Mittel für die Durchführung dieser Weltrevolution», lesen wir bei Sayyid Qutb, dem in den 1960er Jahren in Ägypten hingerichteten Chefideologen der islamistischen Muslimbruderschaft-Bewegung. Eine Bewegung, deren Grundgedanken den Al-Kaida-Gründer Osama bin Laden inspiriert haben und aus deren Mitte so manch ein Mitglied der vom Westen hofierten syrischen Opposition stammt. Im November 2012 wurde durch die EU-Aussenminister eben diese Opposition zu «legitimen Vertretern des Strebens des syrischen Volkes» erklärt. In Brüssel, natürlich.
Mit Worten, wie «selbst für Al-Kaida zu radikal» (Wiener Zeitung) oder «noch schlimmer als Al-Kaida?» (Fokus) halfen auch deutschsprachige Journalisten Stimmung für «kompromisslose Antworten» – sprich westliche «Intervention» – zu machen, als ISIS 2014 von Irak bis Syrien weite Gebiete und wichtige Städte eroberte. Mit beruhigenden Worten, wie «auch ist ihre Ideologie weniger radikal» (Spiegel) oder «die Miliz gilt als pragmatischer und weniger radikal» (Tiroler Tageszeitung) wurde von oft den gleichen Berichterstattern die Nusra-Front verharmlost. Am 12. Dezember 2012 drückte Laurent Fabius als Aussenminister von Frankreich in einer Rede öffentlich sein Bedauern darüber aus, dass die USA den syrischen Al-Kaida-Ableger auf ihre Terrorgruppen-Liste gesetzt hatten, denn «auf dem Schlachtfeld» würden sie doch «ganze Arbeit» leisten.
Zu gewissen Terrormilizen aber auch zu manch einem islamistisch Bewegten scheint der Westen gelegentlich ein verdächtig entspanntes Verhältnis zu haben. Unter dem Namen Ibrahim Awad Ibrahim al-Badry wurde beispielsweise der gegenwärtige ISIS-Kalif am 2. Februar 2004 von US-Truppen im Irak fest genommen und in der dortigen US-Gefängnis-Einrichtung ‹Camp Bucca› eingesperrt. Im Dezember liessen ihn jedoch die Amerikaner als «Gefangener von untergeordneter Bedeutung» wieder frei. Das wäre schon mal das spektakulärste Beispiel Verschwörungstheorien-fütternder Inkompetenz. Hier noch zwei weitere: Der marokkanische Dschihadist Mohammed al-Alami wurde 2013 in Syrien getötet. Zuvor war er in Afghanistan, wo er von US-Truppen aufgegriffen und zwischen 2002 und 2006 im berüchtigten US-Gefängnis ‹Guantanamo› eingesperrt wurde. Die Amerikaner haben ihn dann jedoch an Marokko ausgehändigt, wo er – wie zu erwarten war – frei gelassen wurde. Der Führer der syrischen Al-Kaida ist Abu Muhammad al-Jolani – ein Syrer, der 2006 in den Irak zog um gegen amerikanische Soldaten zu kämpfen. Dort wurde er festgenommen und nach Camp Bucca gebracht. In 2008 wurde er wieder frei gelassen. Zusammen mit dem ISIS-Führer ist er der zweite Terrorchef im Syrien-Krieg, den die USA im Irak festgenommen und wieder frei gelassen hatten.
Da es hier ja um Brüssel geht, sollen auch die belgischen Behörden erwähnt werden. Diese haben sich bisher nicht gerade Anti-Terror-Lorbeerkränze verdient. Das zeigen nämlich die Untersuchungen nach den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris. Mindestens drei Personen, welche in diesen Attentaten verwickelt waren, kamen aus einem Netzwerk radikaler Islamisten mit Hauptquartier Brüssel. Seit Januar 2013 konnte diese Gruppierung unbehelligt Rebellen-Kämpfer nach Syrien schleusen. 2015 verurteilte ein belgisches Gericht 30 Mitglieder des Netzwerks – einige in absentia, da sie noch als Regierungsgegner in Syrien weilten. Ein Verurteilter ausserhalb behördlichen Zugriffs war auch Abdelhamid Abaaoud. Der Belgier marokkanischer Herkunft war angeblich der Führer der Gruppe, welche die Anschläge in Paris verübt hatte.
ISIS ist natürlich nicht einfach aus dem vor Hitze flimmernden irakischen Himmel gefallen. Die militärische Taktik der USA von «Schrecken und Ehrfurcht» hatte zweifelsohne im zeitweise rechtsfreien Raum nach dem Sturz der irakischen Regierung die Al-Kaida entstehen lassen. Was jedoch die Ansichten der westlichen Elite zum ideologischen Nährboden für islamistische Terrorgruppen betrifft, bauen diese meiner Ansicht nach auf einer Fehldiagnose von Islam und Islamismus auf. Dies zeigt sich beispielsweise auch in den bereits erwähnten Feststellungen des deutschen Aussenministers beim Brüsseler Treffen Anti-ISIS-Koalition von 2014. An welche Staaten und an welchen Islam denkt Steinmeier, wenn er «islamische Staaten» auffordert, etwaigen Sympathisanten klar zu machen, dass ISIS «nicht im Namen des Islam» handeln würde?
Fehldiagnose Islam
Am 3. Oktober 2010 hielt der damalige deutsche Bundespräsident Christian Wulff eine Rede zum Tag der Deutschen Einheit und sprach von der «christlich-jüdischen Geschichte» seines Landes. «Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland», fügte er hinzu. Es war in Erinnerung an diese Äusserung, dass die deutsche Regierungschefin Angela Merkel beim Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu am 12. Januar 2015 erklärte: «Der Islam gehört zu Deutschland – und das ist so, dieser Meinung bin ich auch.»
Wenn der Islam Teil des europäischen Lebens ist – wieso darf er dann nicht lebhaft diskutiert werden? In halb Europa liess man als «politischen Islam» verharmlosten Organisationen – vor allem der Muslimbruderschaft – Strukturen aufbauen um eine falsch verstandene Toleranz zu fördern. An Universitäten werden Veranstaltungen mit Islamkritikern abgesagt, denn der innere Frieden ist wichtiger als offene Diskussion. Moschee-Vereine werden nicht als staatliche Interessensträger oder verlängerter Arm einer spezifischen religiösen Auslegung wahr genommen – selbst, wenn man die Finanzierung eindeutig auf die Türkei oder die Golf-Monarchien zurückverfolgen kann. Europas muslimische Theologen sind meist erzkonservativ und stammen selten aus dem jeweiligen europäischen Land, in dem sie tätig sind. Predigten mit klaren Aufforderungen zur Toleranz und mit einer deutlichen Kritik des Fundamentalismus gibt es praktisch nie zu hören. Zugleich wird von europäischen Politikern, Journalisten und Denkfabriken-Experten bewusst vermieden bestimmte Geschehnisse in arabischen Ländern mit Auswüchsen des radikalen Islams in Bezug zu bringen. Zu guter letzt: Europäische Dschihadisten können nach Syrien und wieder zurück reisen und der Rechtsstaat drückt trotz des Tatbestands der «Teilnahme an einem fremden Wehrdienst» gleich beide Augen zu.
«Ich bin Muslim – kein Terrorist!» So oder ähnlich zeigen sich gelegentlich Muslime mit Plakaten auf Solidaritäts-Kundgebungen für Terror-Opfer. Auch die politische und intellektuelle Elite Europas warnt, dass man den Islam nicht unter Generalverdacht stellen soll. Entlarvend ist dabei jedoch, dass dieselbe Elite behauptet, dass sich syrische Kämpfer, denen es angeblich um Demokratie und Freiheit gegangen wäre, erst mangels westlicher Interventions-Bomben radikalisiert hätten. Jetzt warnt diese Elite auch noch davor, dass sich muslimische Flüchtlinge in Europa radikalisieren würden, wenn man sie nicht mit Sozialleistungen bombardiert.
Liberale Muslime – egal, wo auf der Welt sie leben – suhlen sich seit den Kriegen der USA in Afghanistan und Irak gerne in einer Opferrolle und vergessen dabei etwas Grundsätzliches: Die Schuld des Westens ist dadurch begrenzt, dass er Öl in ein Feuer goss, das bereits brannte. Christen können sich von Sätzen der heiligen Bibel distanzieren. Da der heilige Koran als das direkte Wort Gottes gilt, können Muslime diesen Text jedoch kaum relativieren. Gläubige Muslime sind von der absoluten Wahrheit der heiligen Texte überzeugt und diese legitimieren nun mal auch die Anwendung von Gewalt. In keiner anderen Welt-Religion ist der Fokus auf Ungläubige so aggressiv. Apostasie wird praktisch als Todesurteil verstanden. Wer das Problem des islamistischen Terrors anpacken will, muss diese eine Tatsache akzeptieren: ISIS- und Al-Kaida-Kämpfer betrachten sich als tief gläubige Muslime und sind überzeugt davon im Namen des Islam zu handeln.
Die absurde Behauptung der westlichen Elite, dass Islamismus nichts mit Islam zu tun hat, schreit geradezu nach einer Reaktion aus dem rechten Rand. Wer Dinge nicht beim Namen nennt, ist intellektuell korrupt. Vielleicht wäre gerade dies die wirkliche Schuld des Westens, welche liberale Muslime bemängeln sollten.
Fehldiagnose Islamismus
Die islamische Religionsgemeinschaft teilt sich in mehrere Gruppen. Sunniten sind mit etwa 85 Prozent die grösste Gruppe, welche sich nach vier Rechtsschulen unterteilen lässt. In Diskussionen zum Islamismus werden ‹Wahabiten› oftmals mit ‹Salafisten› im selben Atemzug genannt. Es sind konservativ-dogmatische Richtungen der hanbalitischen Schule. In Saudi-Arabien kann man den königstreuen Wahhabismus als Staatsreligion bezeichnen. Der 2012 verstorbene Kronprinz Naif bin Abdulaziz Al Saud nannte die Sekte «Quelle des Stolzes, Erfolgs und Fortschritts des Königreichs».
In den 1960ern entwickelte sich dort auch ein neuer Salafismus, der teilweise die Ideen des Wahhabismus mit den politischen Ziele des frühen Salafismus vereinte. Salafisten möchten weltliche Macht mit einer gottgefälligen Gesellschaftsordnung durch Einführung eines islamischen Staats ersetzen. Mitglieder der Muslimbrüder-Bewegung (zu denen auch die derzeitige Regierung der Türkei und viele Mitglieder der syrischen Exil-Opposition gehören) repräsentieren den politischen Islam im Salafismus – während ISIS- und Al-Kaida-Kämpfer dschihadistische Salafisten sind. Der Begriff «Salafist» wurde inzwischen vor allem durch die in Deutschland entstandene PEGIDA-Bewegung einer breiten Öffentlichkeit näher gebracht. Der deutsche Verfassungsschutz geht zum Beispiel davon aus, dass in Deutschland etwa 7’000 Salafisten leben – darunter gäbe es mindestens 450 Dschihadisten, die sich in Syrien ISIS oder anderen islamistischen Kampfverbänden angeschlossen haben.
Eine weitere Haupt-Konfessionsgruppe im Islam sind mit etwa 10 Prozent die Schiiten – welche sich ihrerseits in verschiedene Gruppen aufgespalten. Es gibt mehrere Staaten, in denen Muslime mit schiitischem Glauben die Mehrheit darstellen. Die Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten waren anfänglich nicht theologischer Natur, sondern entsprangen der Frage, wer die Gemeinschaft der Muslime leiten soll. Bei den Sunniten bildete sich das Kalifat heraus, bei den Schiiten das Imamat. Sunnitische Reformbewegungen, wie der Salafismus und Wahhabismus, halten Schiiten für Ketzer. Zur direkten Gefahr für Schiiten werden dabei sogennante Takfiri, also Gruppen welche Schiiten der Apostasie bezichtigen, als vogelfrei erklären und vor Gewaltanwendungen nicht zurückschrecken.
Sunniten und Schiiten haben über weite Strecken der Geschichte friedlich zusammengelebt. Zwischen den beiden Konfessionen herrscht auch heutzutage meist Harmonie – ausser der konfessionelle Hass wird befeuert. Konfessionskriege sind aber auch in der arabischen Welt nur bedingt ein Kampf um das Dogma, sondern eher um politische und wirtschaftliche Interessen. Der regionale kalte Krieg zwischen Iran und Saudi-Arabien spielt dabei eine wichtige Rolle. Allgemein ist die Stossrichtung der Golf-Monarchien (mit Ausnahme von Oman) implizit anti-schiitisch. Damit wird der konfessionelle Krieg in der Region angeheizt und Iran und Saudi-Arabien in die Rolle als Schutzmächte der Schiiten beziehungsweise der Sunniten gestellt. Die Vereinigten Staaten tragen mit ihrer derzeitigen Aussen- und Kriegspolitik seit mehr als einem Jahrzehnt zur konstanten Verschärfung konfessioneller Spannungen in der Region bei.
Was aber haben Al-Kaida vom Hindukusch über Arabien bis nach Afrika, der ISIS-Protostaat, Al-Shabab in Somalia, Boko Haram in Nigeria, Osama Bin Laden als Buhmann des Westens, 9/11-Terroristen, 7/7-Bomber und die Täter von Paris bis Brüssel alle gemeinsam? Den Salafismus. Diese Erkenntnis wirft aber nun die Frage auf, welche «islamische Staaten» denn nun gemäss dem deutschen Aussenminister ISIS-Sympathisanten klar machen sollen, dass ISIS «nicht im Namen des Islam» handeln würde?
Das weiss auch Steinmeier: Saudi-Arabien schickt radikale Popstar-Imame wie Muhammad al-Arifi in deutsche Salafistenmoscheen, wo Gläubige von Mainz bis Bremen unter anderem erfahren, dass er regelmässig für Osama Bin Ladens Seele beten würde. Dutzende dieser umjubelten Wanderprediger gehen dank der wüsten Monarchie regelmässig in Europa auf Tour. Mit Hilfe grosszügig finanzierter staatlicher Einrichtungen. Al-Arifi zum Beispiel ist Professor an der ‹König-Fahd-Universität› in Riad. Dem Salafismus tritt man nicht mit einem Parteibuch bei oder wird dazu offiziell bekehrt. Es ist eine Radikalisierung im Stillen. Der Salafismus in Europa ist somit ein loses Netz unterschiedlicher Szenen. Die vor allem jugendlichen Fans der Star-Kleriker werden auch über Sozialen Medien geleitet. Zum Beispiel hat al-Arifi 11 Millionen Follower auf ‹Twitter›, eine halbe Million Abonnenten auf ‹YouTube› und 150’000 Fans bei ‹Facebook›.
Saudi-Arabien schickt womöglich mehr als nur Prediger. Das ‹Islamische Kulturzentrum› in der deutschen Stadt Bremen steht beispielsweise seit Jahren im Fokus der Sicherheitsdienste und wurde bereits 2015 nach möglichen Waffenverstecken durchsucht. Alleine aus Bremen seien nach Informationen der Behörden 19 Gotteskrieger nach Syrien und in den Irak gereist. Bremen gilt mit bis zu 360 Anhängern als eine Hochburg der deutschen Salafisten-Szene. Lange Zeit wurde die Lehre dort in einem «Kultur- und Familienverein» verbreitet, welchen der Innensenator jedoch erst im Dezember 2014 verboten hatte, obwohl eigentlich schon 2011 zwei Gründungsmitglieder wegen Anwerbung für Terrororganisationen zu Haftstrafen verurteilt worden waren. Danach galt das Islamische Kulturzentrum als Hort der Salafisten, wo – laut Verfassungsschutz – vor allem «salafistische Referenten aus Saudi-Arabien» vortragen würden. Der Bremer Innensenator erklärte, dass er sich sicher sei, dass dieses Zentrum finanziell aus Saud-Arabien unterstützt würde.
Bremen ist kein Einzelfall in Europa. Der Einfluss der Ölscheichs in Belgien geht beispielsweise auf eine Vereinbarung nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen dem damaligen belgischen Monarchen und seinem saudischen Amtskollegen zurück. Belgien holte sich damals billige Arbeitskräfte aus Marokko und der Türkei. Saudi-Arabien durfte das Geschehen dieser muslimischen Gemeinden prägen. Seit den 1970er-Jahren erhält Belgien günstigeres Öl von den Saudis, da es ihnen formell die islamische Unterweisung der Zuwanderer aus Subsahara-Afrika und den Maghrebstaaten überlassen hat. Heute werden alle Imame und der Vorsteher von Brüssels grösster Moschee mit saudischem Geld bezahlt. Belgien wird auch anderweitig entschädigt fürs Wegschauen. Inzwischen wird nämlich ein Drittel der belgischen Waffenproduktion nach Saudi Arabien exportiert – vor allem Handfeuerwaffen, Munition und Armeefahrzeuge.
Religiös konservative Golf-Monarchen gehören zum kapitalistischen Inventar ganz Europas und die Investitionen konzentrieren sich vor allem auf einflussreiche, mächtige Länder, wie Frankreich, Grossbritannien und Deutschland. Interessanterweise also genau die drei Staaten, die im August 2011 in einer gemeinsamen Erklärung den säkularen und religiös toleranten syrischen Staatschef aufgerufen hatten, «den Weg frei zu machen». Sie feuerten damit ihren Startschuss für einen blutigen innersyrischen Krieg, dessen Auswirkungen Europa vielleicht noch viel schlimmer spüren muss.
Diese Fragen sollte sich Europa nicht nur wegen dem Anschlag in Brüssel stellen dürfen: Wie blind und machtlos ist in 2016 ein europäischer Rechtsstaat dem radikalen Islamismus gegenüber? Muss man bereits die Korrumpierung europäischer Eliten annehmen? So lange man den ideologische Nährboden eines radikalen Islamismus salafistischer Prägung in Saudi-Arabien findet – also innerhalb der führenden Nation des sunnitischen Islams – wie kann ein Herr Steinmeier eine ernste Miene bewahren, wenn er «islamische Staaten» dazu auffordert, deutlich zu machen, dass ISIS «nicht im Namen des Islam» handeln würde?.
Dominic H auf Twitter: @domihol