Wer will den totalen Krieg?

Quelle Beitragsbild: Reuters
Wer will den totalen Krieg?
Kleine Medienkritik aus der Schweiz von Benjamin Kradolfer
Die französische Nachrichtenagentur AFP ist (nach ihrer Online-Selbstdarstellung) „eine der drei größten Nachrichtenagenturen der Welt und die einzige europäische“; sie „liefert eine schnelle, umfassende, objektive und auf Faktentreue geprüfte Berichterstattung über aktuelle Ereignisse und Themen, die unseren Alltag bestimmen.“ Auf Wikipedia ist zur operationalen Reichweite des Unternehmens zu erfahren: „Pro Tag versendet AFP weltweit rund 3200 Artikel, 2500 Fotos, 100 Infografiken und 150 Videobeiträge.“
Die Entwicklung in Nahost vom 7. Oktober 2023 bis heute, also bis zum jüngsten israelischen Bombenhagel auf Libanon, insgesamt bald 12 Monate mit weit über 40’000 (vierzigtausend) ermordeten Zivilisten (nicht mitgerechnet die unbekannte – oder nur verschwiegene? Jedenfalls kaum je offiziell geschätzte – Zahl derer, die noch unter den Trümmern liegen), fasst dieser News-Gigant in die folgenden paar Worte (die der Zürcher Tagesanzeiger heute copypastet):
„Seit dem beispiellosen Angriff der Hamas auf Israel und dem dadurch ausgelösten Krieg im Gazastreifen haben sich die regionalen Spannungen verschärft. Israels Norden steht seitdem unter Dauerbeschuss durch die mit der Hamas verbündete Hisbollah und reagiert auf die Angriffe der proiranischen Schiitenmiliz mit Gegenangriffen im Libanon. In den vergangenen Tagen nahm der Konflikt noch einmal an Intensität zu. Im Libanon starben dabei hunderte Menschen, tausende weitere wurden verletzt. (AFP)“
Fazit des Jahres: ein „Konflikt“ ohne jede Vorgeschichte, „Dauerbeschuss“ und „Angriffe“ nur von „proiranischer“/„radikalislamischer“ Seite, der erste, „beispiellose“, „löste“ eine „Reaktion aus“, nämlich „einen Krieg“, die andern jedoch nur „Gegenangriffe“, und so „sterben“ „hunderte Menschen“ „im Libanon“ – die AFP, eine Nachrichtenagentur von Weltbedeutung mit unleugbarem Sendungsbewusstsein, und der Tagesanzeiger, ein Paradebeispiel für hocheffizienten Mainstream-Journalismus.
Nicht im Mainstream (dafür auf dem Alternativ-Medium „NachdenkSeiten“) gibt es derweil einen Video-Post auf X (Ex-Twitter) von Josh Shapiro, Gouverneur von Pennsylvania (und, wenn ich mich recht erinnere, vor kurzem noch der zweiterste im Endspurtrennen um die Vize-Präsidentschafts-Kandidatur an der Seite von Allheil-Versprecherin Kamala Harris) zu bewundern, wie er in einer heimischen Rüstungsfabrik vor einer Versammlung smarter Herren in Nadelstreifen (Gruppenbild mit Dame und dem obligaten ukrainischen Kriegsherrn Selenski), allesamt fröhlichen Applaus spendend und sich hie und da freudig die Hände schüttelnd, mit Filzstift seine Unterschrift oder womöglich auch seine besten Wünsche und herzlichsten Grüsse auf eine Reihe vor ihm drapierter Bomben setzt, eine jede frisch vom Fliessband, makellos sauber im Bildvordergrund, im Hintergrund prangt der Slogan: „Victortory“y in the field begins in the factory“; dazu textet der Gouverneur Phrasen wie „do our part in the fight for freedom“, von den „workers in Scranton who make Pennsylvania the arsenal of democracy“, von den „brave Ukrainian soldiers“ und „their just defense of their homeland“ – soviel zur Lage auf den osteuropäischen Schlachtfeldern, speziell in der Ukraine. (Übrigens: wird letztere nicht womöglich von einer ganzen Schar von Selenskis regiert? So unentwegt, wie der in der ganzen Welt auf Bomben-Betteltour anzutreffen ist, mal hier, mal da, mal dort, eigentlich überall, wo sowas Hübsches zu haben sein könnte – und solche Bilder bekommen wir andauernd serviert, dafür fein säuberlich keine von seinen zigtausenden geschlachteten Helden-Soldaten –, ist kaum vorstellbar, dass ein einziger Sterblicher das Pensum allein schaffen kann; das Original muss seine Doppelgänger-Mannschaft haben…)
We must all do our part in the fight for freedom — from the workers in Scranton who make Pennsylvania the arsenal of democracy to the brave Ukrainian soldiers protecting their country.
We stand with Ukraine in their just defense of their homeland in the face of Russian… pic.twitter.com/5VnYRfQOm5
— Governor Josh Shapiro (@GovernorShapiro) September 23, 2024
Auf Tagi-Online wiederum, wo die tägliche Schlächterei im Gazastreifen seit mehreren Wochen praktisch mit keinem Wort mehr stattfindet, hat ein Podcast des Nahost-Korrespondenten mit dem Titel „Was, wenn Israel im Libanon einmarschiert?“ nach 9 Stunden Online-Präsenz drei Leserkommentare geerntet. Der erste bezieht sich auf den jüngsten Bombenhagel:
„Was ist wenn die Ukraine Kommandostellen in Moskau bombardieren würde, so wie Israel dies in Beirut machte? Beide Staaten berufen sich auf das Selbstverteidigungsrecht – nur der Eine darf das, der andere nicht. Seltsam, dass hier niemand die doppelte Moral bemerkt (bemerken will?), dabei wäre ein Aufschrei angebracht.“
– auch eine Variante der Empörung über westliche Doppelmoral sowie der Einsicht, dass über die Ukraine anderswo als in Kiew entschieden wird. Tatsächlich aber stehen die Zeichen nicht allzu schlecht, dass der „Aufschrei“, den dieser Leser namens „Karl H.“ „angebracht“ findet – letztlich ja wohl, wie ich fürchte, ein tosendes Massen-Jaaaa! auf die Frage „Wollt ihr den totalen Krieg?“ – schon bald als unvorstellbarer Schreckens- und Schmerzensschrei von über ganz Europa verstreuten Schlachtfeldern widerhallen könnte – ganz einfach, weil andere anderswo mehr als ein Selenski und ein Karl H. zusammen (inkl. Kanzler Olaf) zu entscheiden haben und sich nun mal selbst am totalen Krieg mästen wollen. Und zumindest in Nahost hat ja der ehrenwerte Ministerpräsident Netanjahu sowieso bereits unwiderruflich entschieden: Er will den totalen Krieg nicht nur, er führt ihn auch und hält sich nur insofern zurück, als er der nuklearen Bomben-Totalität in seinem „arsenal of democracy“ noch nicht den Segen des Einsatzes erteilt hat. (Die sog. „konventionellen“ Waffen dafür bezieht er übrigens grösstenteils ebenfalls aus US-Rüstungsschmieden, die nuklearen sind ursprünglich von französischer Machart und mit deutschen Steuergeldern bezahlt.)
Den unmittelbar drohenden israelischen Einmarsch in den Libanon (den übrigens schon seit dem 22. Juni ’24, also seit über einem Vierteljahr, eine Schlagzeile im ansonsten kärglichen „Gaza-Krieg“-Dossier auf NZZ-Online bis auf den heutigen Tag standhaft propagiert: „’Es gibt keine Alternative zu einer Bodenoffensive in Libanon‘ – in Israels Norden stehen die Zeichen auf Krieg. Ein Besuch“…) „differenziert“ nun der zweite Tagi-Kommentartor wie folgt:
„Mit Sicherheit werden Irananhänger weitgehend ausgeschaltet werden. Sie haben dem Land keine Bereicherung gebracht ausser Zerstörung und hinterhältige Terrorakte gegen Libanesen und Israel. Es ist durchaus nachvollziehbar, dass Israel diese Hisbollah-Banden zerschlagen will. Die Wirtschaft liegt am Boden und diese Religionsfanatiker bringen nichts ausser Gerede vom Mohamed und Märtyrertum!“
– auch bei diesem Leser ist der Weltsicht-Standard der Tagi-Redaktion – mitten auf dem Globus ein schwarzes Nachrichten-Loch namens Gaza – ungetrübt und mit allen übrigen Implikationen angekommen: Fanatiker nur auf muslimischer Seite, die auch ganz allein für die wirtschaftliche Misere im Libanon (oder womöglich noch dazu in Israel?) verantwortlich sind, und „Zerstörung und hinterhältige Terrorakte“ nur „gegen Libanesen und Israel“. Immerhin aber widerspricht diesem zweiten Kommentar eines gewissen Walter Meyerhans der dritte eines Alex Hartmayer:
„Religionsfanatiker sitzen zusammen mit Rechtsextremen in der israelischen Regierung Netanjahu. Beide Seiten sind generationenübergreifend traumatisiert durch Tod und Vertreibung, erlittene Gewalt ohne wirksame Gegenwehr, Terror, Verlust Angehöriger, Kollektivstrafen etc. Anstatt Empathie für den Nachbarn zu entwickeln und gemeinsame Lösungen voranzubringen, die auch zu einer Enttraumatisierung beitragen würden, wollen die Extremisten auf beiden Seiten das Trauma der anderen noch verstärken, um ihr eigenes zu überwinden. Natürlich kann das niemals erfolgreich sein und führt alle, auch indirekt involvierte, in den Abgrund.“
Dass Bibi Netanjahu persönlich irgendwie von kriegerischen Abscheulichkeiten traumatisiert ist, glaube ich persönlich zwar nicht, für mich ist er schlicht ein Produkt von US-amerikanisch geprägtem Polit-Karrierismus und PR-Spezialistentum, aber dem sei, wie ihm wolle: Von den drei kommentierenden Tagi-Lesern macht sich immerhin einer Gedanken, wie sie ihm die Tagi-Redakteure schon lange nicht mehr nahelegen, eher im Gegenteil. Und womöglich zählt er ja zu jenen zunehmend Unzufriedenen, die der Tamedia-Gruppe in steigender Anzahl die Konsum-Gefolgschaft aufkündigen, so dass das einst eher linke und an allen Fronten erfolgreiche Schweizer Unternehmen arg ins Wanken gerät. Wie es inzwischen ja eigentlich noch so manch anderem ehemals vertrauenswürdig und unangreifbar scheinenden Medien-Giganten (nicht nur in Zürich) zu wünschen wäre – bis hin zur AFP, die ihren alltäglichen totalen Informationskrieg weltweit gegen Aber-Millionen Konsumenten führt, indem sie zigtausende Kriegsopfer, seien es uniformierte oder zivile, sei es in Gaza oder der Ukraine oder wo auch immer, bestenfalls „schnell, umfassend, objektiv und auf Faktentreue geprüft“ zu blossen Zahlen anonymisiert, aber nur allzu oft nicht einmal mehr das.
Ein Prosit also auf Herrn Hartmayer, auf dass sein Beispiel Schule mache. Möge dem drohenden totalen Krieg und seinen illustren, öffentlichen Befürwortern und Profiteuren eine zunehmend wirkmächtige, nicht länger schweigende Mehrheit das Wasser abgraben.