Kapitel 2 – Über griechische Helden, Märchen und Mythen

„Storytelling in der ARD-Griechenlandberichterstattung 2015“ – was bisher geschah…
Vorwort – Storytelling – die Kunst, Geschichten zu erzählen
Das Trojanische Pferd
Allgemeiner Teil: Die Kunst, Geschichten zu erzählen
Kapitel 2 – Über griechische Helden, Märchen und Mythen
Er ist Rebell, Provokateur und eine Spielernatur. Wo er auftaucht, stiftet er Verärgerung und Chaos. Er stellt sich gegen Autoritäten und Institutionen und liebt listige Tricks, mit denen er seine Umwelt täuscht. Regeln, Vereinbarungen, Normen stellt er in Frage und bricht sie mit einem subversiven Lachen.
Beschrieben wird hier eine der ältesten und faszinierendsten Figuren der Mythologie: der Archetypus des Tricksters. Die christliche Interpretation hat ihn auf seine dämonische Seite reduziert und ihn als diabolischen Widersacher der göttlichen Ordnung, als Teufel, bewertet. Tatsächlich hat er als Schelmenfigur eine „clowneske Doppelnatur“ [19], bestehend aus Widersacher und Heilsbringer zugleich. Der Mythenforscher Jospeh Campbell beschreibt den ambivalenten Charakter des Tricksters als „a kind of devil and fool ─ and the creator of the world“; er ist ein Archetypus des Wandels, der sich gegen den Status quo richtet und „die Kraft, Programme zu verwerfen“, repräsentiert. [20]
Trickster-Geschichten wie die über Griechenlands ehemaligen Finanzminister Yanis Varoufakis sind aufgrund ihrer Suggestivkraft sehr wirkmächtig, da sie als Urbilder menschlicher Vorstellungs- bzw. Erfahrungsmuster im kollektiven Unbewussten angesiedelt sind.
In der amerikanisch-indianischen Mythologie z.B. wird der Trickster durch den Kojoten verkörpert. In der französischen Volksdichtung begegnet uns der Trickster in der Gestalt von Reineke Fuchs, in Deutschland in Till Eulenspiegel genauso wie im Rattenfänger von Hameln. In der nordischen Mythologie tritt er als Loki auf, in der griechischen Sagenwelt zeigt sich der Trickster in der Gestalt von Prometheus ebenso wie im Götterboten Hermes, dem Gott der Kaufleute, Wissenschaft sowie Diebe und (Trick-)Betrüger. Sie alle und viele andere mehr repräsentieren Facetten dieses einen Archetypus.
Hier eine moderne Interpretation des Tricksters in der Gestalt des Rattenfängers von Hameln:
In seinem Buch „The Hero with a Thousand Faces“ (1949) beschreibt der Mythenforscher Joseph Campbell auch unter Einbeziehung der Ideen von C.G. Jung die archetypischen Charaktere sowie das Urerzählmuster der meisten Mythen und Märchen der Welt: den sog. Monomythos, die „Heldenreise“, bestehend aus zahlreichen Stationen, deren Essenz das aristotelische 3-Akt-Schema (Konflikt, Zuspitzung, Konsequenz) ist und die als narratives Urmuster den vielfältigen Geschichten dieser Welt in unzähligen Variationen zugrunde liege (z.B. in Geschichten über Transformation und Wandlung, über den Kampf gegen das Böse, über selbst verschuldete Tragödien usw.) [22]:
Ein Held macht sich aufgrund eines Problems, meistens bestehend aus einem Mangel (materiell oder ideell), auf die „Reise“ (auch symbolisch) von der „vertrauten“ in eine „andere“ Welt. Dort spitzt sich der Konflikt zu: Er muss Prüfungen bestehen, sich seinem Antagonisten stellen, durchläuft eine Entwicklung bis zum Höhe- bzw. Wendepunkt, der die Auflösung in Form einer Konsequenz einleitet: Meistens darf er ein Elixier oder einen Schatz (materiell oder/und ideell) als Belohnung für seine Reifung mit nach Hause in seine vertraute Welt zurücknehmen ─ oder er stolpert scheiternd in die Katastrophe. Aber immer gibt es einen „Schatz“ in Form der Katharsis, der Läuterung des Helden oder/und des Zuschauers.
Christopher Vogler hat den Monomythos für Hollywood in Form einer Anleitung für das Drehbuchschreiben nutzbar gemacht. [23] „Hollywood schreibt ab – warum wir nicht auch?“, fragt Christian Friedl, Redakteur des Bayerischen Rundfunks und Autor des Buches: „Hollywood im journalistischen Alltag“ [24]. Friedl leitet als Storytelling-Trainer an der ARD.ZDF Medienakademie regelmäßig journalistische Fortbildungsseminare zum Thema „Hollywood für den Alltag“:
„Grundlage des Seminars ist die klassische Dreiaktstruktur und die darin eingewobenen Elemente der Heldenreise, die man beim kurzen Magazinfilm genauso erfolgreich einsetzen kann wie bei der langen Dokumentation. Hollywood-Regisseure wie Spielberg (E.T.), Cameron (Titanic) oder Lucas (Krieg der Sterne) bauen so ihre Filme auf. Sie werden anhand von Hollywoodbeispielen die jeweiligen Erzählstrukturen kennenlernen und an einer Vielzahl von Magazinbeispielen sehen, wie leicht Sie als Autor, abnehmender Redakteur und an der Produktion Beteiligter damit einen journalistischen Film verbessern können.“ [25]
„Die Erzählregeln im journalistischen Film sind nicht viel anders als in Spielfilmen. Wir sollten einfach gute Geschichten schreiben. Ob fiktiv oder real, da sehe ich keinen Unterschied. Denn der Übergang ist sowieso fließend. Ab wann ist etwas schon fiktiv? Wann noch real?“ [26], fragt ARD-Redakteur Friedl in seinem Buch „Hollywood im journalistischen Alltag“.
Dieser Frage geht Jack Lule nach, Professor für Journalistik an der Lehigh University in Pennsylvania: In seinem Buch „Daily News, Eternal Stories. The Mythological Role of Journalism“ analysiert er journalistische Nachrichten mit Blick auf ihren mythischen Gehalt:
„Wir können in Nachrichtengeschichten den Sirenengesang der Mythen wiedererkennen. Diese Nachrichtengeschichten bieten mehr als das Nacherzählen gängiger Geschichtenarten. Diese Nachrichtengeschichten bieten heilige gesellschaftliche Narrative mit gemeinsam geteilten Werten und Überzeugungen, mit Lektionen und Themen und mit exemplarischen Modellen, die anweisen und informieren. Sie bieten Mythen an.“ [27]
Lule identifiziert 7 konkrete Hauptmythen bzw. mythische Figuren in journalistischen Nachrichten: das Opfer, den Sündenbock, den Helden, die gute Mutter, den Trickster, die andere Welt und die Flut.
Angela Phillips (The Guardian) benennt ─ mit zahlreichen inhaltlichen Überschneidungen zu Lule ─ 5 typische Erzähl-Archetypen: die Überwindung des Bösen, Transformation, Tragödie, Liebesgeschichten und Erwachsenwerden. [28]
Mit seiner klaren „Wir“-gegen-„sie“-Polarisierung und seiner eindeutigen moralischen Struktur ist der Erzähl-Archetypus „Die Überwindung des Bösen“ eines der populärsten Narrative, die Journalisten aufgreifen. Er gehört zu jenen kulturellen Narrativen mit klaren semantischen Rollen (Held, Opfer, Schurke), die laut dem US-Linguisten George Lakoff konventionalisierte Emotionen erzeugen: Auf die Verletzung des Helden bzw. des Opfers reagieren wir mit Empörung und dem Wunsch, das Gute möge siegen und das Böse bestraft werden. Den Kampf zwischen Gut und Böse beobachten wir mit Spannung, der Sieg des Guten erfüllt uns schließlich mit Freude.
Einen wichtigen Stellenwert in der Kunst des Storytelling nimmt daher die Charakterisierung und Konstellation der Figuren ein: „Wie zeichnet man den Helden, wie den Schurken?“ Christian Friedl beantwortet diese Frage in seinem Buch und seinen Seminaren. Der professionelle Rat des ARD-Experten: Man sollte „gleich klar machen, wer der Bösewicht ist.“ [29]
„In diesem Seminar lernen Sie, wie Sie auch im Nonfiction-Bereich Figuren zeichnen, welche und wie viele Attribute die Geschichte vorantreiben, welche Arten von Hauptfiguren es gibt und wer die idealen Gegenspieler sind. Zudem lernen Sie ganz praktisch, wie Sie das größte Problem beim Erzählen von Geschichten lösen ─ also, wie Sie den Spannungsbogen des 2. Aktes halten. Dieser längste Teil der Geschichte besteht aus Prüfungen, aus Sequenzen, deren Aufbau und dramaturgische Abfolge der vielleicht wesentlichste Teil des Storytelling sind. [30]
Der „Spannungsbogen des zweiten Aktes“, der die ARD-Berichterstattung über die Syriza-Regierung in immer neuen Episoden monatelang bestimmte, waren die Bewährungsproben und Prüfungen (Stichwort: Reformliste) des rebellischen Antihelden Tsipras, der zweiten Tricksterfigur in diesem griechischen Drama.
Dieser hatte zusammen mit seinem trickreichen Gesellen Varoufakis eine „Heldenreise“ angetreten von seiner „vertrauten“ (Griechenland/Wahlversprechen/Erwartungen des griechischen Volkes) in die „andere Welt“ (europäische Realität/Verhandlungen in Brüssel/Regeln). Sein Problem bzw. Mangel: Er hat Wahlgeschenke versprochen, braucht dafür Geld. Faul, wie er ist, lehnt er aber Reformen ab. Und so ziehen die beiden Trickbetrüger aus, um die fleißigen europäischen Steuerzahler um ihr mit harter Arbeit verdientes Geld zu bringen und machen dabei auch vor Erpressungen und Drohungen nicht halt.
Ihnen entgegen stellt sich der wahre Held des Dramas: die Figur des mächtigen Herrschers Schäuble. Er und seine Gefolgsleute zeigen sich entschlossen, die herrschende (Werte-)Ordnung und das Wohlergehen ihrer Untertanen zu verteidigen (Geld nur gegen Reformen, Vereinbarungen müssen eingehalten werden). Ein Kampf zwischen Gut und Böse beginnt…
Wolfgang Schäuble verkörpert den Archetypus des Herrschers und des strengen Vaters: Auf der Bühne des griechischen Dramas erscheint er als Verteidiger und Hüter der bedrohten (Werte-)Ordnung.
Als Gegenspieler der Antihelden verkörpert der Bundesfinanzminister auch den Archetypus des Schattens: jene Charakteranteile, die der Antiheld zu Beginn seiner Reise noch ablehnt und erst in Form einer Wandlung (Trennung vom komischen Gesellen Varoufakis und Akzeptieren des Troika-Programms) in seine Persönlichkeit integrieren wird. Im vorliegenden Fall sind dies v.a. die Charaktereigenschaften Sparsamkeit und Fleiß (Reformwillen). Als Belohnung für die erfolgreiche Wandlung winkt dem griechischen Ministerpräsidenten das Elixier (Beschluss über 3. Hilfspaket).
Hätte sich der Antiheld Tsipras nicht den Bedingungen der Kreditgeber unterworfen, so hätten die Zuschauer auf dem Bildschirm die Dramaturgie einer selbst verschuldeten Katastrophe (Grexit, Graccident) verfolgen können: eine banalisierte Form der klassischen griechischen Tragödie.
Üblicherweise tritt der Archetypus des Schattens als Gegenpol zum positiv besetzten Helden in der Figur des Schurken auf, nicht aber wenn ─ wie im Fall der vorliegenden Dramaturgie ─ die Rolle des Schurken bereits vom (Anti-)Helden und seinem Begleiter besetzt ist. Erst im Juni 2015 spricht die ARD die vorgenommene Rollenverteilung explizit aus:
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[19] Constantin von Barloewen: Clowns. Versuch über das Stolpern, München 2010, S. 23.
[20] An Open Life: Joseph Campbell interviewed by Michael Toms, New York 1989.
[21] Varoufakis hat Pläne für Europa, tagesschau.de, 09.02.2016.
[22] Jospeh Campbell: The Hero with a Thousand Faces, Princeton 1949.
[23] Christopher Vogler: The Writer’s Journey, Mythic Structure for Storytellers and Screenwriters, Los Angeles 1992.
[24] Christian Friedl: Hollywood im journalistischen Alltag, Wiesbaden 2013, S. 13.
[25] Ausschreibungstext für das Seminar „Hollywood im Alltag“ am 12.12.2016, ARD.ZDF Medienakademie.
[26] Christian Friedl: a.a.O., S. 19.
[27] Jack Lule: Daily News, Eternal Stories. The Mythological Role of Journalism, New York 2001, S. 18.
[28] Angela Phillips: Good writing for Journalists, London 2007.
[29] Christian Friedl: a.a.O., S. 65.
[30] Ausschreibungstext für das Seminar „Storytelling – Hollywood für den Alltag – Vertiefung“ am 17.10.2016 -18.10.2016, ARD/ZDF Medienakademie.
[31] Kommentar des ARD-Korrespondenten Alois Theisen in den Tagesthemen vom 27.06.2015.
Fortsetzung folgt am 10.08.2016