Der mysteriöse Rückzug des NDR von einer investigativen Recherche
(aktualisiert am 10.12.2024)
Eine einflussreiche Journalismusorganisation soll maßgeblich von der US-Regierung finanziert worden sein. Reporter des NDR haben Recherchen dazu vorangetrieben. Doch enthüllt wurde die Geschichte jetzt von anderen Medien. Eine Spurensuche. (PaidI
Der ruhmreiche Norddeutsche Rundfunk kooperierte einst, wie andere hiesige Medienhäuser auch, mit dem Investigativ-Netzwerk „Organized Crime and Corruption Reporting Project“ (OCCRP), trennte sich aber von diesem Partner, um Anfang 2023 damit zu beginnen, über diesen nunmehrigen Ex-Partner zu recherchieren. Dafür tat man sich dann in diesem Jahr mit neuen Partnern zusammen, doch, ach, diese Kooperation scheiterte bald – und zwar auf für den NDR schmachvolle Weise. Das ist jedenfalls eine von zwei dieser Ex- Partner – mediapart.fr und dropsitenews.com – ausführlich dargelegte und vom NDR heftigst bestrittene Sichtweise.
Der Kern der Recherchen über das OCCRP betrifft übrigens deren überwiegende Finanzierung durch verschiedene US-Regierungsbehörden. Sowohl darauf als auch auf die gegen den NDR vorgebrachten Vorwürfe gehen nun unter anderem das NDR-Magazin „Zapp“ in halbeigener Sache und auch Michael Hanfeld in der FAZ ein.
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-3950.html
Das internationale Journalistennetzwerk „Organized Crime and Reporting Project“ (OCCRP) war an zahlreichen großen Enthüllungen der vergangenen Jahre beteiligt. „Panama Papers“, „Suisse Secrets“, der „Russian Laundromat“: investigative Recherchen zu Korruption und organisiertem Verbrechen mit Verbindungen bis in höchste politische Kreise. Nun wird das OCCRP selbst zum Gegenstand einer aktuellen Recherche.
Recherche zu OCCRP: Französische Journalisten werfen NDR „Zensur“ vor
Das französische Portal „Mediapart“ kritisiert den Norddeutschen Rundfunk für das Vorgehen bei einer gemeinsamen Recherche. Der Sender widerspricht vehement.
Wer Interesse an Verschwörungsgeschichten hat, dem liefert das französische Onlineportal Mediapart neues Material. Denn es wirft dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) „Zensur“ vor. Diese bestehe darin, dass der NDR eine Recherche über das Investigativ-Netzwerk „Organized Crime and Corruption Reporting Project“ (OCCRP) aufgenommen, drei weitere Medien, darunter Mediapart, zur Teilnahme eingeladen, das Ergebnis der journalistischen Erkundung aber unterdrückt habe. Dem widerspricht der NDR vehement. […]
Das Themengebiet, dem sich OCCRP widmet, ist umfassend, es geht um Machtmissbrauch und Korruption, Gewalt gegen Frauen, Cyberattacken, Drogenkriminalität, Umwelt- und Kriegsverbrechen und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Mehr als 200 Mitarbeiter wirken für OCCRP, die Organisation hat nach eigenen Angaben mehr als 50 Verlagspartner in der ganzen Welt, das Jahresbudget belief sich 2023 auf 22,1 Millionen Dollar. Finanziell unterstützt wird die NGO von zahlreichen Gebern, darunter Stiftungen und Regierungsstellen in Frankreich, Großbritannien, Schweden und den USA.
An dieser Stelle setzt die vermeintliche Enthüllung von Mediapart über das OCCRP und den NDR an. Der Lesart von Mediapart zufolge ist das Journalistennetzwerk nämlich so etwas wie eine politische Vorfeldorganisation der USA, weil sie anfangs vor allem vom US Bureau of International Narcotics and Law Enforcement Affairs gefördert worden sei, einer Behörde, die dem Außenministerium unterstellt ist; rund 50 Prozent der Gelder, über die OCCRP verfügt, stammten von der US-Regierung. Das habe die Organisation verheimlicht. Washington, so Mediapart, könne über maßgebliche personelle Besetzungen des OCCRP per Vetorecht bestimmen und finanziere Recherchen, die sich gegen Russland oder Venezuela richteten. […] Der NDR habe zwar beschlossen, künftig nicht mehr mit OCCRP zusammenzuarbeiten, es aber nicht für nötig erachtet, das Ergebnis der Recherche ins Programm zu bringen, ein vorbereiteter Beitrag des Magazins „Zapp“ sei zurückgezogen worden.
Es lohnt sich allemal, die ausführlichen Artikel zu lesen, aus denen „Zapp“ und die FAZ zitieren. Bei mediapart.fr findet sich folgende recht drollige Passage:
„In einer E-Mail vom 12. November 2024 baten die gemeinsamen Chefredakteure des NDR-Fernsehens, Andreas Cichowicz und Adrian Feuerbacher, sowie die stellvertretende Programmchefin des Senders, Juliane von Schwerin, darum, die Antworten auf unsere Fragen nicht zu veröffentlichen. ‚Wir möchten Sie bitten, diese Aussagen nicht zu zitieren oder zu verwenden‘, schrieben sie. ‚Wenn Sie dies wünschen, wenden Sie sich bitte an die Pressestelle des NDR.“
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-3950.html
Der Schaden für die Glaubwürdigkeit entstehe unabhängig von der Frage, ob Politik tatsächlich Einfluss auf die redaktionelle Arbeit genommen habe, erklärt Leonard Novy vom Institut für Medien- und Kommunikationspolitik. Schon der Anschein von Parteilichkeit sei ein massives Problem für die Glaubwürdigkeit und Legitimation der journalistischen Arbeit. Auch scheinen Sullivan und das OCCRP sowohl ihre journalistischen Partner als auch ihre Leserinnen und Leser über die Nähe zur US-Regierung im Unklaren gelassen zu haben. Damit habe die Organisation in den Augen von Novy eine Grenze überschritten. […]
Politikwissenschaftler Leonard Novy sieht angesichts der „existenziellen strukturellen Herausforderungen, vor denen der Journalismus steht“, durchaus die Notwendigkeit für finanzielle Förderung aus öffentlichen Geldern. Diese müsse aber „intelligent und transparent“ eingesetzt werden. Um die journalistische Unabhängigkeit nicht zu gefährden, müsse das Geld nach klaren Kriterien vergeben werden, die Förderung transparent gemacht und unbedingt staatsfern organisiert sein – beispielsweise durch unabhängige Gremien, die das Geld verwalten.
Laut NDR fehle es dem Thema an Relevanz für ein breites Publikum. Die eigens vom NDR ermittelte Tatsache, dass die US-Regierung die Berichterstattung der „größten Organisation für investigative Berichterstattung auf der Welt““ bewusst steuert, indem sie ihre Mittelvergabe konditioniert, hat also keinen Nachrichtenwert für ein breites Publikum. Das muss man sich angesichts der Belanglosigkeiten, die es in schöner Regelmäßigkeit in die Hauptnachrichten und Flaggschiffe des OERR schaffen, auf der Zunge zergehen lassen.
„Was hat ZAPP damit zu tun?
Mediapart erhebt in einem zweiten Artikel den Vorwurf, der NDR habe die eigene Recherche zum Thema OCCRP „zensiert“. Hierzu stellt die ZAPP-Redaktion klar: Es gab keinerlei Zensur bei ZAPP, dieser Vorwurf entbehrt jeglicher Grundlage. ZAPP war an der NDR-Recherche zu OCCRP gar nicht beteiligt und auch nicht Teil der internationalen Recherchekooperation. Auch der NDR insgesamt hat den Vorwurf der Zensur nach Veröffentlichung der Recherchen zurückgewiesen.
Autoren des NDR haben die Recherche begonnen und über einen längeren Zeitraum fortgeführt. In der Abwägung gegenüber anderen Projekten haben wir uns gegen eine Beteiligung entschieden. Dies war alleinige und freie Entscheidung der Redaktion. ZAPP berichtet unabhängig und immer wieder kritisch über den NDR. Auch deswegen hat die Redaktion sich dagegen entschieden, eine Recherche zu übernehmen, die nicht in der Redaktion entstanden ist. Wir haben uns stattdessen darauf vorbereitet, im Nachgang über die Recherche und ihre möglichen Auswirkungen zu berichten.“
https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/zapp/Journalisten-im-Auftrag-der-US-Regierung-Vorwuerfe-gegen-OCCRP,occrp102.html
Der NDR im internationalen Rampenlicht
Internationale Aufmerksamkeit für den deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunk generiert seit gut einer Woche der NDR. Bzw. wurde er da zum Gegenstand vieler „sehr ausführlicher Texte“, die auf französisch bei mediapart.fr, auf italienisch und englisch erschienen (Altpapier), und inzwischen immer mehr, ebenfalls äußerst ausführliche deutsche Texte nach sich ziehen. Bei uebermedien.de (Abo) schrieben Ex-Altpapier-Autorin Annika Schneider und Alexander Graf. Und heute füllt „SZ“-Veteran Hans-Jürgen Jakobs, von der (in Papiermedien wichtigen!) Rätselspalte abgesehen, die ganze „SZ“-Medienseite (auch Abo).
Die Materie ist komplex. […] Diese an Bedingungen wie die, bei bestimmten Recherchen US-amerikanische Bezüge auszusparen, geknüpften OCCRP-Finanzierungen galten ab Anfang 2023 selber Recherchen, die vom NDR ausgingen, und zwar von dessen Investigativreporter John Goetz. Der seit langem in Deutschland tätige US-Amerikaner geht investigativ oft in Grauzonen, in denen Schwarz und Weiß sich nicht schnell oder auch gar nicht zeigen. Für diese Recherchen holte der NDR auch Partner ins Boot – welches er selber dann verließ, um seine Recherchen lieber nicht zu veröffentlichen.
„Im harmlosesten Fall zeigt das Beispiel, wie planlos und unkoordiniert ein öffentlich-rechtlicher Sender Ressourcen vergibt und Inhalte plant: Nach vielen Monaten aufwendiger Recherche, einer extra vereinbarten Kooperation mit Medienpartnern und einem großen Teil der Schnittarbeit versandet ein fast fertiger Beitrag irgendwo zwischen Zuständigkeiten und Programmschemata – ohne dass der Sender eine inhaltliche Begründung geliefert hat, warum das Thema nicht ausgestrahlt wurde“, heißt es bei uebermedien.de zu diesem Aspekt.