Sieglinde Baumert – Beitragsstreik führte ins Gefängnis

Sieglinde Baumert – Beitragsstreik führte ins Gefängnis

Sieglinde Baumert – Beitragsstreik führte ins Gefängnis

Seit dem 4. Februar 2016 saß die 46-Jährige Sieglinde Baumert aus dem thüringischen Geisa in Erzwingungshaft im Frauengefängnis der JVA Chemnitz, weil sie sich standhaft weigerte, die Haushaltsabgabe für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu entrichten. Zwei Monate später berichtete die Tageszeitung DIE WELT über den Fall und brachte einen Stein ins Rollen, der zunächst die Presselandschaft beschäftigte und alsbald als Initialzündung für die Freilassung von Frau Baumert diente. Zwei Tage später zog der MDR den Antrag auf Erlass eines Haftbefehls gegenüber Sieglinde Baumert zurück.

Der Widerstand in Teilen der Bevölkerung gegen das aktuelle Finanzierungsmodell der Öffentlich-Rechtlichen wächst rapide an. Bis Ende 2014 waren um die 10 % aller Betragskonten – in Summe etwa 4,5 Millionen – nicht ausgeglichen. Der juristische Direktor des MDR, Jens-Ole Schröder gab im Interview an, dass die große Mehrheit der Bevölkerung das derzeitige Rundfunkbeitragsmodell akzeptiere.

„Die absolut große Mehrheit akzeptiert das neue Beitragsmodell. Sie zahlen für das was sie dafür erhalten, diesen Rundfunkbeitrag für unser umfangreiches Angebot.“

Über das „umfangreiche Angebot“, auf das sich der juristische Direktor des MDR bezieht, lässt sich jedoch trefflich streiten. Die Ständige Publikumskonferenz ist, neben zahlreichen Kritikern der Angebote und Darbietungen öffentlich-rechtlicher Anstalten, sehr skeptisch, was die Erfüllung des gesetzlichen Auftrages anbelangt. Gleichwohl sind wir durchaus der Auffassung, dass das System Reformen vertragen könnte, sei es auf strukturellen, programmatischen und natürlich auch auf dem Gebiet der sozial ungerechten Haushaltsabgabe. Wenn der juristische Direktor des MDR, Jens-Ole Schröder, weiß, dass die große Mehrheit der Bevölkerung das neue Beitragsmodell akzeptiert, dann stünde ja einer freiwilligen Zahlung der „Demokratieabgabe“ nichts im Wege.

Und wenn der WDR-Chefredakteur Fernsehen und Mitglied der Atlantikbrücke, Jörg Schönenborn, zur Kritik am neuen Rundfunkbeitrag und der Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks meint, dass die „Demokratieabgabe“ ein Beitrag für die Funktionsfähigkeit unseres Staatswesens und unserer Gesellschaft sei, weil Demokratie auf der Urteils- und Entscheidungsfähigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger fußt, dann können Kenner des öffentlich-rechtlichen Informationsgebarens ein bitteres Lachen nicht unterdrücken.

Die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit in einem 80-Millionen-Land sei nur mittelbar „medial“, durch Medien herzustellen, so Schönenborn, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sichere das Funktionieren unserer Demokratie. Ein Traum, oder? Man könnte dicke Sachbücher schreiben über Anspruch und Wirklichkeit – aber das haben andere schon getan. Vielen Dank an dieser Stelle an Wolfgang Herles, Uwe Krüger, Mathias Broeckers, Paul Schreyer, Albrecht Müller, Bertold Seeliger, Kurt Gritsch, Wolfgang Bittner, Karin Leukefeld, Ulrich Tilgner, Andreas von Westphalen, Walter van Rossum, Gaby Weber … und natürlich auch den vielen aufrichtigen Journalisten dieser Republik, denen außer Nato-Propaganda und Russland-Hetze noch vernünftige und humanistische Themen am Herzen liegen.

Ein Ärgernis, welches uns schon länger bewegt, ist die Unsitte öffentlich-rechtlicher Redaktionen Interviews mit themengerecht ausgewählten Partnern – wie es gerade zum intendierten Sendeinhalt passt – aus dem Zusammenhang zu reißen und an passenden Stellen wieder zusammenzufrickeln, Relevantes komplett auszusparen und somit für die „Urteils- und Entscheidungsfähigkeit“ des Publikums wichtige Passagen schlicht zu unterschlagen. Beispiele dieser unsäglichen und hart an der vorsätzlichen Lüge angesiedelten Praxis haben wir im Forum und im Blog hinreichend thematisiert. Natürlich streiten die Programmverantwortlichen in trauter Eintracht mit den „Anwälten des Publikums“ ab, dass diese ärgerliche, öffentliche Zensur des gesprochenen Wortes einer gewissen Tendenz folgt. Offensichtliches zu leugnen – dazu gehört schon ordentlich Chuzpe.

Die eingangs vorgestellte, und inzwischen über unsere Landesgrenzen* hinaus bekannte, „Rebellin“ Sieglinde Baumert bekam von einem einschlägig bekannten Format einige Fragen gestellt, deren ausführliche Beantwortung wohl nicht veröffentlicht wird.
Wir dokumentieren das Interview hier im Wortlaut und bitten um rege Verbreitung.

Interview mit Sieglinde Baumert:

1.) Sie haben zwei Monate im Gefängnis gesessen und sogar Ihren Job verloren, weil sie keinen Rundfunkbeitrag zahlen wollten. Ist das die Sache wert gewesen?

Ich denke, diese Frage, ob es das wert war, sollten Sie der Finanzverwaltung des Landratsamtes Wartburgkreis, dem Amtsgericht Bad Salzungen, dem Landgericht Meiningen und dem Obergerichtsvollzieher des Amtsgerichtes Bad Salzungen stellen. Nach den mir vorliegenden Schriftstücken sind dies die Entscheidungsträger, die sich für eine Inhaftierung entschieden haben.
In meiner Beschwerde gegen den Haftbefehl an das Gericht wies ich ausdrücklich auf die in einem demokratischen Rechtsstaat übliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Mittel hin. Dabei sprach ich auch konkret die Möglichkeit des Jobverlustes an.

Lt. Antwort des Gerichtes werde bei Erzwingungshaft die Verhältnismäßigkeit nicht geprüft. (Es sei erwähnt, dass es weitere Beschwerdepunkte meinerseits gab.) Nach meiner Information stammt dieser Erzwingungshaftparagraph, der zu meiner Inhaftierung führte, aus einer sehr dunklen Zeit deutscher Geschichte und ist mit demokratischen Grundwerten nicht vereinbar.

Auch die Äußerung des Direktors des Amtsgerichtes halte ich für mehr als bedenklich. Er sagte, dass die Leute bei Androhung von Haft normalerweise einknicken. Übersetzt heißt das für mich: Diese Methode ist eine gängige Form, eine Unterschrift zu erpressen und das in einem demokratischen Rechtsstaat. Hier spielt man mit Freiheitsentzug der Bürger, unabhängig davon, ob von ihnen eine Gefahr ausgeht und ob sie sich ernsthaft etwas zu Schulden kommen ließen. In meinem Fall ging es einzig und allein um eine Unterschrift wegen 191€ Rundfunkzwangsabgabe, die ich aus Gewissensgründen ablehne – und dafür 6 Monate Haft?!
Durch meine Inhaftierung wurde deutlich gezeigt, dass die Geldeintreibung bis zum Exzess getrieben wird.

2.) Warum wollen Sie denn nicht zahlen?

Warum sollte ich ein Angebot mitfinanzieren, dass ich ablehne? Viele zustimmende Rückmeldungen zeigen mir, dass ich mir nicht allein diese Frage stelle. Es war natürlich für mich nötig, genauer hinzuschauen, was hier eigentlich passiert. Es folgt eine Auflistung, weshalb ich keine Veranlassung sehe, mein Geld hier einzubringen:

1. Ich habe mich über die Pflichten der ÖRR informiert. Diese werden nachweislich missachtet. Der Grundsatz der staatsfernen, neutralen, unabhängigen Berichterstattung bleibt ein Wunschbild. Erinnert sei hier an die Zusammensetzung der Rundfunkräte. In der Praxis zeigt sich das z. Bsp. in direkter oder indirekter Parteienwerbung oder auch „Antiwerbung“. Die tendenziöse, polarisierende, von politischen Interessen durchsetzte Programmgestaltung ist nicht mit meinem Gewissen vereinbar.

2. Missachtung diverser Gutachten und einer Dissertation zum Thema, welche die Verfassungsmäßigkeit ernsthaft in Frage stellen

3. Missachtung des Datenschutzes beim Zugriff auf die Daten bei den Einwohnermeldeämtern

4. Werbung/Werbeeinnahmen/Sponsoring widersprechen dem Neutralitätsauftrag der ÖRR

5. Die Zwangsgelder werden unsozial und ungerecht eingetrieben:

– Nutzungsunabhängige Zwangsfinanzierung
– Fehlende Staffelung zwischen Groß- und Geringverdiener
– Viele Firmen oder Selbständige werden doppelt oder sogar vielfach zur Kasse gebeten. Diese Handhabung betrachte ich als Abzocke.
– Große Sportveranstaltungen werden extrem teuer eingekauft, obwohl es alternative Lösungen gibt.

6. Verschwenderische und missbräuchliche Verwendung der Einnahmen durch die ÖRR
– Völlig überzogene Gehälter und Pensionsansprüche
– Korruptionsskandale (z.Bsp. beim KiKa) und Vetternwirtschaft
– Der Neubau diverser Anlagen, die dann kaum genutzt werden oder auch generell der Bau überteuerter Studios etc.

3.) Was müsste sich denn beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk verändern, damit Sie den Beitrag zahlen würden? Oder ist das unabhängig vom Programm eine grundsätzliche Entscheidung?

Die Reaktionen auf meine Inhaftierung zeigen sehr deutlich, dass der Unmut in der Bevölkerung zur aktuellen Regelung sehr groß ist. Dies dürfte auch den ÖRR längst bekannt sein. Sehr viele Menschen zahlen einfach nur deshalb, damit sie keinen Ärger wegen der Nichtzahlung bekommen. Als erstes müsste deshalb geklärt werden, inwiefern überhaupt Bedarf an der jetzigen Angebotsform besteht. Kann man bei über 20 Fernsehprogrammen und über 60 Radiosendern noch von einer Grundversorgung sprechen? Weiter wäre mir wichtig, dass ich eine Wahl habe. Wenn mich eine Sache überzeugt, bin ich duchaus bereit, freiwillig dafür zu zahlen. Wenn mich die Sache aber nicht überzeugt oder sie mir sogar deutlich missfällt, ist es doch das Mindeste, dass ich sie nicht auch noch kaufen muss. Stattdessen werden aber in der Praxis existenzbedrohende Maßnahmen gegen Nichtzahler angewendet. Die derzeitige Handhabung ist einfach untragbar – nicht nur für mich. Nach den Erfahrungen, die ich nun machen musste, halte ich es für sehr fraglich, mich für diese Sache gewinnen zu können. Sollte jedoch eine Zeit kommen, in der ich mich gerne vor den Fernseher setze/Radio höre und ein politisch unbeeinflusstes, freies Programm geboten bekomme, bei dem auch „das Drumherum“ stimmig ist, könnte dies zu einer Änderung meiner derzeitigen Meinung führen. Die aktuelle Entwicklung spricht aber in vielfacher Form dagegen.

4.) Sie haben gesagt, Sie hätten kein Radio und keinen Fernseher. Woher bekommen Sie Ihre Informationen?

Mich interessieren oft sehr spezielle Themen, zu denen ich mir entsprechende Literatur besorge. Die oben gemachten Angaben habe ich aus dem Internet und diversen Zeitungen/Zeitschriften. Allein das Internet beinhaltet ein wesentlich vielseitigeres Informationsangebot, als es die Rundfunk- u. Fernsehprogramme bereitstellen könnten. Das liegt ganz einfach an der technischen Entwicklung, die seitdem stattfand. Zu der Zeit, als die ÖRR ins Leben gerufen wurden, waren sie noch außer Konkurrenz. Seitdem hat sich technisch sehr viel verändert. Viele Menschen hierzulande halten die jetzige Form der Zwangsfinanzierung für überholt.

5.) Was wäre Ihr Vorschlag, um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu finanzieren? Oder möchten Sie ARD und ZDF generell abschaffen und nur noch private Medien nutzen? Denken Sie, dass das Angebot bei den Privaten ausreichend gut ist?

Natürlich möchte ich Niemandem die Nutzung der ÖRR verwehren. Es steht mir nicht zu, hier andere Menschen bevormunden zu wollen, wie man es bei mir und vielen Anderen versucht. Wenn der Bedarf vorhanden ist, werden sich auch genug Leute finden, die Ihre Angebote freiwillig finanzieren. Es kann jedoch nicht sein, dass man sich ständig rechtfertigen muss, weil man das Angebot nicht nutzen möchte. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich das in aller Deutlichkeit sage, aber die stattfindende Aufdringlichkeit der ÖRR ist in meinen Augen durch nichts zu rechtfertigen. Warum nutzt man nicht die Möglichkeit der Verschlüsselung? Wie oben bereits angesprochen, gibt es in unserem Medienzeitalter viele verschiedene Informationsquellen als Alternativen.

Ich sage hier generell nichts Neues. Diese Dinge sind alle bekannt. Die ÖRR haben ihre Glaubwürdigkeit in meinen Augen wiederholt aufs Spiel gesetzt und dabei sehr schlecht abgeschnitten. Sie laufen Gefahr, dass der passive Widerstand weiter zunehmen wird, sollte hier nicht in absehbarer Zeit eine Lösung gefunden werden. Richterliche Entscheidungen werden von der Bevölkerung nicht mehr stillschweigend hingenommen, da sie gegen jedes Gerechtigkeitsempfinden verstoßen. Ich denke, ich spreche hier im Namen vieler Betroffener. Wann wird es endlich akzeptable politische Veränderungen geben?

Ich bedanke mich aufrichtig bei Ihnen für Ihr Interesse.

Herzliche Grüße
Sieglinde Baumert

Update:
Wer mit der aktuellen geräteunabhängigen Haushaltabgabe nicht einverstanden ist, hat 2 Möglichkeiten:
1. Fristgerecht Widerspruch nach Erhalt des Festsetzungsbescheides einlegen und dann den Klageweg beschreiten. Bei den Gerichten sind bundesweit bereits 1000e Klagen anhängig.
2. Kein Geld investieren und einfach nicht zahlen. Dies kann in letzter Konsequenz – wie bei Frau Baumert – bis zur Inhaftierung führen. Ob das sinnvoll erscheint, muss jeder für sich entscheiden – wir raten allerdings von dieser Vorgehensweise ausdrücklich ab.

Update 2: Das Magazin Zapp berichtete ausführlich und druckte das Interview mit Sieglinde Baumert in leicht gekürzter Form ab. Der SWR, der innerhalb der ARD federführend für den Rundfunkbeitrag zuständig ist, machte Frau Baumert ein Gesprächsangebot.

Justizar „Vielleicht wäre es möglich, ihrer Einschätzung über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk weitere Facetten hinzuzufügen und die Dinge auch einmal von der anderen Seite aus zu betrachten. Gern würden wir daher den Versuch unternehmen, nicht nur übereinander, sondern auch einmal miteinander zu reden“

Zusammenfassung und Stellungnahmen

* Internationaler Pressespiegel

BRASILIEN

El País, 08.04.2016

DÄNEMARK

Berlingske, 04.04.2016
Ekstra Bladet, 05.04.2016

ENGLISH

thelocal.de, 04.04.2016, First person ever jailed over public broadcaster fee
Deutsche Welle, 05.04.2016, More and more Germans boycotting state media fees

ITALIEN

agi.it, 04.04.2016

KROATIEN

croexpress.eu, 05.04.2016

MEXIKO

yucatan.com.mx, 04.04.2016
Letra Roja, 07.04.2016, Conoce a la mujer que fue a prisión por negarse a pagar el servicio de TV

ÖSTERREICH

Kleine Zeitung, 04.04.2016
aktivist4you.at, 05.04.2016

POLEN
wMeritum.pl, 04.04.2016
namzalezy.pl, 05.04.2016

SERBIEN

Udruzenje novinara Srbije, 10.04.2016
Politika, 10.04.2016
Krstarica, 11.04.2016

SPANIEN

finanzas.com, 04.04.2016
ABC internacional, 04,04,2016
„Mi abogado en línea“, 05.04.2016, En prisión Alemana que se negó a pagar impuesto de radiodifusión pública
SatCesc.com, 05.04.2016, Pena de cárcel por no pagar el canon de la TV alemana
El Pais, 06.04.2016
grupotortuga.com, 08.04.2016
El Progreso, 08.04.2016

TSCHECHIEN

Manipuláto?i.cz, 11.4.2016

TÜRKEI

karar.com, 04.04.2016
Dirilis Gazetesi, 04.04.2016
Hürriyet, 06.04.2016
Sabah, 06.04.2016
haberler.com 05.04.2016
46medya.com, 05.04.2016

Ungarn

duol.hu, 06.04.2016