Programmbeschwerde: Die ARD Tagesschau und der Fall Skripal

Programmbeschwerde: Die ARD Tagesschau und der Fall Skripal

Bildquelle: Sputnik

Man braucht schon starke Nerven, wenn man sich in diesen Tagen auf die gesammelten Berichte des Mainstream zum Giftgasanschlag auf den Ex-Spion Skripal und dessen Tochter einlassen möchte. Etwas Gegengift zum gewohnt russophoben Narrativ der Staats- und Konzernmedien tut not, wenn man nicht verzweifeln will an chronischer Logikferne, schwächelnder Diplomatie und unverblümter Ignoranz international anerkannter Rechtsgrundsätze – z. B. dass die Beweispflicht stets beim Ankläger liegt. „Necessitas probandi incumbit ei qui agit“ sagten schon die alten Römer, aber zu dieser Zeit hausten Briten und Germanen noch in Höhlen. Erstaunlich ist, dass die demokratiebewahrenden Aufklärer mit Informationsauftrag sich weiterhin standhaft weigern, die Politikdarsteller in nah und fern auf den hanebüchenen Zustand ihrer Argumentationsketten hinzuweisen. Aber irgendwer muss es ja machen.

ARD Tagesschau vom 15.03.2018 zum Thema Giftgasanschlag auf den Ex-Doppelagenten Sergej Skripal
Beitrag von Jens Köhler

Die Tagesschau-Sendung am 15.03.2018 klang so dramatisch, als ob die NATO kurz vor der Ausrufung des NATO-Bündnisfalls wäre. Nur in einem Halbsatz wurde eine eher unauffällige Relativierung vorgenommen: „Trotzdem die Beweise für eine Beteiligung Russlands noch nicht vorliegen“, gelinge es Theresa May, den Beistand der Bündnispartner zu bekommen. NATO-Generalsekretär Stoltenberg wurde zitiert damit, dass er Unterstützung versprach.

Die britische Regierung betreibt aktiv Kriegspropaganda, indem Sie die Bedingungen für den Beginn eines Krieges herbeiredet, anstatt sich in diesem Fall erst einmal um die Einhaltung der OPCW-Regeln für den Umgang mit einem solchen Fall zu bemühen. Die ARD beteiligt sich mit ihrer Berichterstattung an dieser Kriegspropaganda.

Tatsächlich formulierte Theresa May ihre erste Stellungnahme viel vorsichtiger, als es später von den Medien und anderen Politikern wiedergegeben und verstärkt wurde. Sie sagte, es handele sich um „ein Nervengift von einem Typ, der in Russland entwickelt wurde“. „Wir wissen, dass Russland dieses Gift früher produziert hat und noch immer in der Lage ist, dies zu tun“. (Das träfe übrigens auch auf das Begriffspaar Sarin und Deutschland zu und dennoch kommt niemand auf die Idee, Angela Merkel sei nun für jeden Sarin-Anschlag verantwortlich.) Die vom Theresa May verwendete Kompromissformulierung war jedoch ausreichend suggestiv, um Russland erneut in Misskredit zu bringen und die internationale Lage zu verschärfen.
Die gezielt verwendete Suggestivformulierung floss dann auch ein in eine gemeinsame Erklärung Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens. Drei Länder vereint bei einem besonders gefährlichen Typ von Propaganda:

Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA rufen in gemeinsamer Erklärung Russland auf, zu allen Fragen Stellung zu nehmen, die mit dem Anschlag in #Salisbury verbunden sind. Steffen Seibert (@RegSprecher) 15. März 2018

https://twitter.com/RegSprecher/status/974267788297736193/photo/1

Man beachte: „Entwickelt, nicht gemacht, produziert oder hergestellt“, präzisiert der ehemalige britische Botschafter in Usbekistan, Craig Murray. Es sei daher auch kein Zufall, dass die entsprechende Formulierung ebenfalls Eingang in die „gemeinsame Stellungnahme“ Großbritanniens, Deutschlands und Frankreichs fand, wie sie etwa von Regierungssprecher Steffen Seibert über dessen Twitterkanal verbreitet wurde:
Der Einsatz eines militärischen Nervenkampfstoffes eines Typs, wie er von Russland entwickelt wurde, stellt die erste offensive Anwendung eines solchen Nervengiftes in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg dar.

Noteworthy: @VOANews interviews defector scientist Vil Mirzayanov who coined the term “Novichok agent”: “The British could easily have synthesized it on the basis of the formulas that I published in my book in 2008”

https://twitter.com/RussianEmbassy/status/974624993274417152/photo/1

Übersetzung: Vil Mirzayanow: “Die Briten könnten das [die chemische Substanz] problemlos synthetisiert haben und zwar auf Basis der Formeln meines Buches, das ich im Jahr 2008 veröffentlichte.”

Der nach wie vor über gute Kontakte verfügende britische Historiker, Menschenrechtler und Botschafter a.D. in Usbekistan, Craig Murray, argumentierte bereits wenige Tage nach dem Anschlag auf den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal, dass die mit dem Fall befassten Chemiker nicht in der Lage seien, den mutmaßlich zum Einsatz gekommenen chemischen Kampfstoff „Nowitschok“ als solchen zu identifizieren oder gar nach Russland zurückzuverfolgen. Die Wissenschaftler müssten dafür zumindest über eine eindeutig zuzuordnende Vergleichssubstanz verfügen.

In seiner Einschätzung beruft sich Murray unter anderem auf Dr. Robin Blake, den Leiter des britischen Laboratoriums für chemische Kampfstoffe in Porton Down. Dieser hatte im Jahr 2016 einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht, in dem er unter anderem darlegte:

In den letzten Jahren gab es oft Spekulationen darüber, dass in den frühen 1970er Jahren als Teil des so genannten Foliant-Programms eine vierte Generation von Nervengasen, Nowitschoks, in Russland entwickelt wurde; dies mit dem Ziel, einen Kampfstoff zu finden, der defensive Gegenmaßnahmen unterlaufen würde. Informationen über diese chemischen Verbindungen waren in der Öffentlichkeit sehr spärlich, die meisten kamen von einem russischen Dissidenten und Militärchemiker mit dem Namen Wil Mirsajanow. Es wurde jedoch nie eine unabhängige Bestätigung über Struktur oder Eigenschaften von solchen chemischen Verbindungen veröffentlicht.
Blake ist nicht nur Leiter des aktuell die Todesumstände Skripals untersuchenden Laboratoriums Porton Down, sondern ebenfalls ein ehemaliger Kollege des Chemiewaffenexperten Dr. David Kelly, der nachwies, dass es sich bei der Behauptung, im Irak seien Massenvernichtungswaffen vorhanden, um eine inszenierte Lüge handelte. Kelly kam daraufhin im Juli 2003 unter mysteriösen Umständen ums Leben.

Quelle: https://www.craigmurray.org.uk/archives/2018/03/the-novichok-story-is-indeed-another-iraqi-wmd-scam/

Nun beruft sich Ex-Botschafter Murray auf „Kontakte ins Foreign and Commonwealth Office“, denen zufolge die in Porton Down tätigen Wissenschaftler erheblichem Druck ausgesetzt worden seien, um das gewünschte Ergebnis eines „Nervengases aus russischer Produktion“ zu erzielen. Die verärgerten Chemiker wiesen die Anmaßung vonseiten der Politik jedoch zurück, so dass man sich im Ergebnis auf eine Kompromiss-Formulierung geeinigt habe. Demnach werde seither von einem Nervenkampfstoff „eines Typs, wie er von Russland entwickelt wurde“ gesprochen.

Quelle: https://www.craigmurray.org.uk/archives/2018/03/of-a-type-developed-by-liars/

Eine vorsätzlich spitzfindige Formulierung also, die auf der Tatsache beruht, dass der Nachweis einer russischen Urheberschaft für die verwendete Substanz eben nicht zu erbringen ist. Ein Schlupfloch, um diese dennoch bewusst suggerieren zu können, sollte jedoch offen bleiben.

Bei dem mutmaßlich verwendeten „militärischen“ Nervengas handelte es sich … um einen „Typ“ der chemischen Verbindung und nicht um „den Nowitschok-Nervenkampfstoff“, als welcher die mutmaßlich zum Einsatz gekommene Substanz nun ihr Mediendasein fristet. Murray illustriert dies an einem anschaulichen Beispiel:
„Diese Substanz ist ‚ein Nowitschok‘. Sie ist von diesem Typ. Genauso wie ich auf einem Typ Laptop schreibe, der in den USA entwickelt, aber in China hergestellt wurde.“

Quelle: https://deutsch.rt.com/international/66772-britischer-ex-botschafter-legt-nach/

In der Tagesschau-Sendung wurde falsch dargestellt, Russland hätte die Entwicklung des Novichok-Programms abgestritten. Das sowjetische Chemiewaffenprogramm war allerspätestens beendet und die Vorräte vernichtet, nachdem 1993 die OPCW feststellte, dass Russland unter internationaler Beteiligung seine gesamten Chemiewaffenvorräte beseitigt hat. Fakt ist, dass die Entwicklung Kampfstoffen der Gruppe „Novichoks“ selbst durch die OPCW und andere Wissenschaftler bezweifelt wurde in diversen Publikationen. Die wissenschaftliche Gemeinschaft erkennt an, dass der an der Entwicklung beteiligte Militär-Chemiker Herr Mirzajanov daran arbeitete, bezweifelt jedoch, dass er erfolgreich war. Herr Mirzayanov brachte Anfang der 90er Jahre eine chemische Formel für einen „Novichok“, einen neuen Zweikomponenten-Kampfstoff in die USA und hat diese 2008 in einem Buch veröffentlicht.

An Ihrer Tagesschau-Berichterstattung kritisieren wir weiterhin Unterschlagungen von wichtigen Begleitinformationen:

In Ihrer Berichterstattung fehlte bisher völlig, dass Vorräte von sowjetischen chemischen Kampfstoffen auch in anderen ehemaligen Republiken der Sowjetunion gelagert waren, wie z. B. in Usbekistan, in Georgien und in der Ukraine. Die „Nachdenkseiten“ haben dazu recherchiert:

„Das Gift, das angeblich in Salisbury zum Einsatz kam, soll ein Nervengift aus der sogenannten „Nowitschok-Reihe“ sein, die in den 70ern und 80ern in der Sowjetunion entwickelt wurde und später in zahlreichen Varianten produziert wurde. Es ist aktenkundig, dass neben den Nachfolgestaaten der Sowjetunion auch die USA Zugang zu Stoffen der „Nowitschok-Reihe“ hatten – z.B. im Jahre 1999, als Experten der US-Behörden eine Forschungseinrichtung der Sowjets in Usbekistan außer Betrieb nahmen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass neben den USA auch Staaten wie Israel und ganz sicher auch Großbritannien sich Kenntnisse über das C-Waffen-Programm der Sowjets beschafft haben.“

Weiterhin fehlte in Ihrer Berichterstattung völlig, dass Russland Großbritannien aufforderte, sich an die Regeln der OPCW für die Aufklärung eines solchen Vorfalls mit angeblicher Chemiewaffen-Anwendung zu halten.

In dem durch die OPCW-Regeln (internationales Recht) vorgegebenen Prozedere steht eben nicht, dass man erst einen Staat des Chemiewaffeneinsatzes beschuldigt, und vielleicht irgendwann mal eine forensische Untersuchung macht, sondern umgekehrt, dass man zuerst gemeinsam eine Untersuchung macht, wobei dafür zunächst erst einmal 10 Tage vorgesehen sind.

Weiterhin fehlte in Ihrer Berichterstattung, dass Großbritannien die Übergabe von Proben der Spuren des angeblichen Kampfstoffes an Russland bisher verweigert. Genug Reste davon müssen ja gefunden worden sein, wenn man innerhalb von nur einem Tag eine chemische Analyse machen konnte, welche eine angeblich so zweifelsfreie Zuordnung des Falls zu Russland zulässt. Im britischen Labor muss man wohl genau gewusst haben, wonach man sucht, um so schnell zum Ergebnis zu kommen.

Weiterhin fehlte in Ihrer Berichterstattung, dass das Timing für den Anschlag so gewählt ist, dass Russland nur maximalen Schaden daraus nehmen kann. Unmittelbar vor den Präsidentenwahlen in Russland und kurz vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft. Kann wirklich jemand glauben, dass die Russen so bescheuert sind, sich ein solch schlechtes Timing anzutun, noch dazu mit einem offiziell begnadigten und ausgetauschten Ex-Agenten, welcher keine relevanten Informationen und Kontakte mehr hat?

Weiterhin fehlte in Ihrer Berichterstattung, in welcher Art im britischen Unterhaus über den Fall debattiert wurde. Eine der wenigen Mahnungen zur Mäßigung kam von Jeremy Corbyn, dieser wurde mit lautstarkem Geschrei der anderen Abgeordneten an der Fortsetzung seiner Rede gehindert. In dem im britischen Unterhaus üblichen, emotional aufgeladenem Politik-Theater können komplizierte Analysen und ausgewogene Bewertungen nicht zustande kommen. Vielmehr wurde dort einfach nur das verstärkt, was von britischen Geheimdiensten an einzelne Politiker und an die Presse lanciert wurde.

Weiterhin fehlt in Ihrer Berichterstattung, dass der ehemalige britische Botschafter in Usbekistan, Craig Murray einschätzte, das von britischen Behörden schnell behauptete Motiv des angeblich russischen Anschlags – Rache für Schmach in der Vergangenheit – nicht einer näheren Überprüfung standhält.

Und hier noch zwei Wertungen des Autors zu Ihrer Berichterstattung:

Die Unschuldsvermutung als wichtiger Bestandteil der modernen Justiz wird im Fall Russland regelmäßig ins Gegenteil verkehrt. Hier machen westliche Staaten in der Regel eine sofortige Schuldzuweisung, die dann mittels möglichst häufiger und dramatischer Wiederholung in den Medien in den Rang der absoluten Wahrheit erhoben wird. Was gegenwärtig läuft, ist eine Vorverurteilung Russlands, und wir werden sehen, es wird niemand im Westen an einer tatsächlichen Aufklärung interessiert sein. Der Fall wird ähnlich wie der Fall Litvinenko oder der Fall MH 17 verlaufen.

Die Ankündigung Russlands, auf die Ausweisung mit 23 Diplomaten mit Gegenmaßnahmen zu reagieren, wurde in der Tagesschau am 15.03.2018 kommentiert mit den Worten, der kalte Krieg sei wieder zurück. Aha, der Staat, welcher sich gegen unbewiesene heftigste Anschuldigungen – am Rande von Kriegsandrohungen – versucht zu wehren, ist der Auslöser des kalten Krieges.

Eine schizophrene Sicht bei der ARD.

Link zur Programmbeschwerde von Jens Köhler…