Aus aktuellem Anlass: Historie des Begriffs „Lügenpresse“ und aktuelle medienkritische Debatten

Historie des Begriffs „Lügenpresse“ und aktuelle medienkritische Debatten
Herr Keuner begegnete Herrn Wirr, dem Kämpfer gegen die Zeitungen.
Ich bin ein großer Gegner der Zeitungen“, sagte Herr Wirr, „ich will keine Zeitungen.
So beginnt Bertolt Brechts Geschichte „Herr Keuner und die Zeitungen“ (Seite 14).
Der Vorwurf der „Lügenpresse“ ist alles andere als neu.
Den Vorwurf, die Presse würde lügen, gab es schon vor über 200 400 Jahren, der Begriff „Lügenpresse“ wurde vor fast genau 100 Jahren erstmals öffentlich verwendet.der Begriff „Lügenpresse“ scheint vor fast genau 175 Jahren erstmals öffentlich verwendet worden zu sein. Neu ist, in welchem politischen Kontext der Begriff gebraucht wird und dass Medienkritiker mit seiner Hilfe kollektiv und simplifizierend von jenen, die sich angesprochen fühlen, in die rechte Ecke verbannt werden.
Spannend ist, dass die Zensur lange als Mittel galt, die Zeitungen vom Lügen abzuhalten.
Im Rahmen der Linken Medienakademie hielt der Medienpolitiker Heiko Hilker den Einführungsvortrag zur Historie des Begriffs der „Lügenpresse“.
Heiko Hilker belegt seine These in seinem Vortrag mit einem Rückblick in acht Schritten.
1. Blick
Politische Auseinandersetzungen zwischen Zeitungen oder zwischen Zeitungen und Teilen der Öffentlichkeit – verbunden mit massiven Lügenvorwürfen – gibt es in Deutschland erst seit dem 19. Jahrhundert. Zeitungen teilten Informationen bis dahin lediglich mit. Politische Auseinandersetzungen fanden fast ausschließlich innerhalb der herrschenden Kreise statt. Dass sich wie in Zeiten der Reformation überregional eine öffentliche Meinung herausbildete, die auch Einfluss auf Denken und Handeln der sozial Benachteiligten nahm, blieb immer nur auf kurze Zeiträume und konkrete Ereignisse beschränkt.
Die Zensur jedoch ist älter. Lange verstand sie sich vor allem als helfende Kraft. Sie wollte vor allem dafür sorgen, dass korrekte Informationen weitergeleitet wurden. Was „korrekt“ war, blieb freilich Ansichtssache. Konsequenterweise weigerte sich die Leipziger Bücherkommission, Sachsens oberste Zensurbehörde, Zeitungen zu zensieren. Ihre Begründung: Sie könne die aus großer Entfernung eingehenden Nachrichten nicht auf deren korrekten Inhalt überprüfen.
2. Blick
Zu öffentlichen politischen Auseinandersetzungen zwischen den Herrschenden und Teilen der Beherrschten kam es erst zum Ende der Aufklärung ab den 1770er Jahren. Nachdem über längere Zeit gesellschaftliche Missstände in verbrämter Form dargestellt wurden, wurden jetzt erstmals politische Zeitschriften genutzt, um unverblümt gesellschaftliche Probleme anzusprechen. Eine politische Opposition meldete sich öffentlich zu Wort.
Die politischen Zeitschriften erreichten zwar nur eine kleine oppositionelle politische Elite. Sie sorgten dennoch aber auch für eine Gegenreaktion: eine politische, auf Unterdrückung zielende Zensur und eine politische Justiz, die politische Pressevergehen mit aller Schärfe verfolgten.
3. Blick
Nach der Napoleonischen Ära mit einer beschränkten Pressefreiheit gelang es den Fürsten nicht, die politische Opposition, die sie zum Teil selber erst gegen das Napoleonische Lager zu Hilfe gerufen hatte, wieder mundtot zu machen. Mit den Karlsbader Beschlüssen hatten sich die Fürsten zwar zu einer strengen, auch politischen Zensur verpflichtet. Diese konnte aber bestenfalls einzelne oppositionelle Publikationen unterdrücken und sogenannte „Demagogen“ von der Justiz verfolgen lassen. Es kam zu den „Demagogenverfolgungen“. Auf Dauer ließ sich aber Opposition nicht unterdrücken. Auseinandersetzungen zwischen Publikationen sowie zwischen Publikationen und gesellschaftlichen Gruppen blieben aber auf die Eliten beschränkt.
Obwohl als Folge revolutionärer Vorgänge in Frankreich in den 1830er Jahren auch in einigen deutschen Bundesstaaten eine beschränkte Pressefreiheit gewährt oder erkämpft wurde, blieben Zeitungen weiterhin kleinen Eliten vorbehalten. Immerhin sorgte die neue Freiheit dafür, dass nunmehr auch Zeitungen das politische Räsonnement nach dem Vorbild der Zeitschriften einführten. Zeitungen erhielten eine politische Tendenz und begannen den politischen Streit mit Blättern anderer Richtungen. Viele „Intelligenzblätter“ (Anzeigenblätter) in kleineren und mittleren Städten wandelten sich zu politischen Zeitungen um.
Der politische Streit wurde meist in sehr schlichter, oft diffamierender Weise ausgetragen. So war es z. B. in der Regel vollkommen unüblich, die gegnerische Argumentationslinie, gegen die polemisiert wurde, sachlich darzustellen. Parteinahme für die Richtung der eigenen Zeitung blieb für die Leser eine Glaubenssache. In dieser Zeit wurde der Begriff Lügenpresse verwendet, jedoch nicht kontinuierlich. So gab 1835 die Wiener Zeitung die Rede eines Abgeordneten vor der französischen Deputiertenkammer wieder, der für eine Einschränkung der Pressefreiheit eingetreten war, weil „nur durch Unterdrückung der Lügenpresse […] der wahren Presse aufgeholfen werden“ könne. (Wiener Zeitung vom 2. September 1835, S. 990, nach wikipedia, abgerufen am 20.09.2015)
Auch die Episode der 1848er Revolution änderte an diesem Zustand wenig. Lediglich die Leserkreise wuchsen vorübergehend. Revolutionsblätter waren meist reine Verkündungsblätter politischer Programme und hatten keinen tatsächlichen aktuellen Redaktionsteil. Sie lebten meist nur kurze Zeit. Die Leser verloren auch meist mangels inhaltlicher Substanz bald das Interesse an ihnen.
Neu war, dass seit Mitte des 19. Jahrhunderts der Presse allgemein vorgehalten wurde, sie sei korrumpiert. Dieser Vorwurf war nicht aus der Luft gegriffen. Zahlreiche deutsche Regierungen und auch Verwaltungen anderer Länder waren – lange vor Bismarck – von der Vorstellung besessen, eine von ihnen finanziell abhängige Presse zu schaffen, die dann in gewünschter Weise in die öffentliche Diskussion eingreifen würde. Ihnen kam entgegen, dass die kleinen, meist finanziell darbenden Blätter auf Unterstützung angewiesen waren und solche „Hilfen“ dankbar annahmen. Vor allem Preußen und Österreich arbeiteten in den deutschen Bundesstaaten flächendeckend mit Pressebestechung. Dem ganzen lag die schlichte Vorstellung zugrunde, dass ein Zeitungsleser die Aussage seiner Zeitung 1:1 in sein Denken überführen würde.
4. Blick
Seit den 1870er Jahren gab es die grundsätzlichste Veränderung im deutschen Pressewesen. Zeitungslektüre wurde für viele Menschen zu einer Notwendigkeit. Möglich wurde die Zeitungslektüre durch den neuen Zeitungstyp des Generalanzeigers (GA), der wegen seiner hohen Auflage, vor allem aber wegen seiner hauptsächlichen Finanzierung durch Anzeigen einen sehr niedrigen Verkaufspreis besaß. Die weite Verbreitung war aber auch möglich, weil die GA sich nicht fest an eine politische Richtung banden und somit für unterschiedlichste Leser genießbar war. Insbesondere Großverlage waren jetzt auch tatsächlich wirtschaftlich gewinnbringend, was ihnen auch politische Unabhängigkeit einbrachte.
Die etwa 3000 politischen Zeitungen auf dem flachen Lande besaßen diese wirtschaftliche Stärke nicht. Sie waren auf Zulieferungen (Materndienste, gedruckte Zeitungsmäntel u.a.m.) angewiesen, was zur (auch politischen) Uniformität beitrug. Die jetzt vor allem von den Arbeiterparteien und ihren am alten Typ „Parteiblatt“ klebenden Zeitungen vorgetragene Systemkritik an der „bürgerlichen Presse“ als Teil des Herrschaftsapparats war bei den kleinen Zeitungen durchaus berechtigt. Bei den unabhängigen Großverlagen in den Großstädten traf diese Kritik keineswegs ins Schwarze.
Die – verglichen mit der Weimarer Republik – liberale Justiz im Kaiserreich sorgte zudem dafür, dass mit Hilfe des Persönlichkeitsrechts Pressefehden in Grenzen gehalten wurden. Kritik von außen an der Presse hielt sich in Grenzen. Rechte Außenseiter wie völkische und fundamentalistische Antisemiten und deren Presse wurden von den übrigen politischen Kräften meist mit Ignoranz in Grenzen gehalten.
Zugespitzte Lagerkämpfe wie in Frankreich während der Dreyfus-Affäre erlebte die deutsche Presse vor 1918/19 zu keiner Zeit. Auseinandersetzungen um Kulturkampf und Sozialistengesetz blieben beschränkte Auseinandersetzungen, die nicht die breite Öffentlichkeit aufwühlten.
Ende 1914 erschien allerdings ein Buch mit dem Titel: „Der Lügenfeldzug unserer Feinde: Die Lügenpresse“ von Reinhold Anton. Im Jahr darauf legte er nach mit „Aus der Lügenwerkstatt. Der Lügenfeldzug unserer Feinde“. 1916 veröffentlichte er das Pamphlet „Die Lügenpresse. Der Lügenfeldzug unserer Feinde: noch eine Gegenüberstellung deutscher und feindlicher Nachrichten“, das sich mit den Telegrammen der Nachrichtenagenturen über den „Weltkrieg 1914/16“ befasste. Hier bescheinigte er stets der eigenen Seite das Monopol auf die Wahrheit.(Rainer Blasius, faz.net, 13.01.2015, http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/unwort-des-jahres-eine-kleine-geschichte-der-luegenpresse-13367848.html, abgerufen am 20.09.2015)
5. Blick
Die Ergebnisse des ersten Weltkrieges sorgten für eine bislang ungekannte Polarisierung in der Gesellschaft. Die neu entstandene Weimarer Republik und deren Institutionen sahen sich einer widerspruchsvollen Bekämpfung durch nahezu alle maßgeblichen politischen Richtungen aus höchst unterschiedlichen Motiven und in sehr unterschiedlichem Maße ausgesetzt.
Neu war dabei, dass die Nazibewegung „die“ Presse und nicht nur einzelnen Zeitungen als Teil des zu bekämpfenden Systems („Systempresse“) betrachtete. Kern der „Systempresse“ waren für die Nazis die Zeitungen der (meist von jüdischen Familien betriebenen) Berliner Großverlage und die „marxistische Presse“. „Lüge“ und „Hetze“ waren die zentralen Unterstellungen, denen sich seither die „Systempresse“ ausgesetzt sah.
Straßenverkaufszeitungen bezogen – wurde zum diffamierenden Kampfwort. Daneben bevorzugte Joseph Goebbels den Begriff Journaille, auch „jüdische Journaille“.
Der Begriff „Lügenpresse“ kommt weder in Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ noch in seinen Reden direkt vor. In „Mein Kampf“ richtete sich Hitler beispielsweise gegen die „Schmutzpresse“ und gegen die „mit jedem Mittel der Verleumdung und einer wahrhaft balkenbiegenden Lügenvirtuosität arbeitende Tagespresse“, insbesondere die „sozialdemokratische Presse“. Bei Joseph Goebbels lässt sich der Begriff „Lügenpresse“ in dessen Tagebüchern nachweisen – so am 18. Januar 1930 und am 20. Dezember 1939. Dabei bezog er sich auf die Auslandspresse.(Rainer Blasius, faz.net, 13.01.2015, http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/unwort-des-jahres-eine-kleine-geschichte-der-luegenpresse-13367848.html, abgerufen am 20.09.2015)
Dass Zeitungsbetriebe auch physisch angegriffen wurden, war ebenfalls neu. Dass die Mehrzahl der Zeitungsbetriebe von eher nazifreundlichen Firmen aus dem Umfeld von DNVP und rechtem Flügel der DVP beliefert wurde, ging in diesem Pressekampf unter und wurde – ohne größeren Erfolg – lediglich von den radikalen Gegnern der Nazis thematisiert.
6. Blick
Auch nach in der Zeit des Kalten Krieges wurde der Vorwurf immer wieder geäußert: zum einen als Vorwurf gegenüber den Medien des anderen Systems, zum anderen auch innerhalb des Systems.
Im „Schwarzen Kanal“ des DDR-Fernsehens sprach Karl-Eduard von Schnitzler von der „kapitalistischen Lügenpresse“. Das Neue Deutschland bezeichnete westdeutsche oder amerikanische Publikationen bis Anfang der 1970 als Lügenpresse. Auch in der BRD wird vor allem in linken Kreisen nach dem Dutschke-Attentat unter Verweis auf die vorhergehende Berichterstattung von der „Lügenpresse“ gesprochen. Dabei bezog man sich nicht nur auf die BILD und andere Zeitungen des Axel-Springer Verlags. Im Herbst 1989 wurde in der DDR das Neue Deutschland als „Lügenpresse“ bezeichnet.
7. Blick
Seit Anfang der 2000er Jahre ist das Wort „Lügenpresse“ insbesondere in neonazistischen und rechtsradikalen Gruppen gängig. Christoph Seils schrieb bereits 2007 in der Zeit, die Kader der rechtsextremen Szene seien sich „einig über den gemeinsamen Feind: den Staat, die Systemparteien, die Lügenpresse und die Ausländer“.
Im April 2012 wurde der Spruch „Lügenpresse halt die Fresse!“ von Neonazis an das Sonneberger Redaktionsgebäude des Freien Wortes geschmiert, im Mai 2012 an die Fenster der Lokalredaktion der Lausitzer Rundschau in Spremberg, in beiden Fällen waren die Anlässe Berichte der Zeitungen über rechtsextreme Aktivitäten.
Auch in der Fanszene von Fußballvereinen wird seit mindestens drei Jahren immer wieder die Parole „Lügenpresse halt die Fresse“ gerufen.
Bei den Pegida-Demonstrationen seit Oktober 2014 wurde das Schlagwort „Lügenpresse“ immer wieder in Sprechchören gerufen. Oft reagierten Demonstranten so darauf, wenn einer der Redner die Berichterstattung der Medien kritisierte.Derartige Sprechchöre wurden auch gegenüber Medienvertretern angebracht, die versuchten, Meinungsäußerungen oder Interviews von Demonstranten zu erhalten.
8. Blick
Als der Ausdruck „Lügenpresse“ zum Unwort des Jahres 2014 gekürt wurde, begründete das die Jury so: „Mit dem Begriff werden Medien pauschal und ohne Unterschied diffamiert … Eine solche pauschale Verurteilung verhindert fundierte Medienkritik und leistet somit einen Beitrag zur Gefährdung der für die Demokratie so wichtigen Pressefreiheit, deren akute Bedrohung durch Extremismus gerade in diesen Tagen unübersehbar geworden ist.“
Soweit die Blicke zurück. Welche Kritik gibt es aktuell neben der platten Diffamierung? Worin hat diese ihre Ursachen?
So stellt der Medienwissenschaftler Dietrich Leder (Dietrich Leder, Verschwörungstheoretiker in der Wagenburg, in: „Grimme 2015“, S. 8.) fest:
Die klassischen Massenmedien scheinen auf viele Menschen wie ein monolithischer Block zu wirken, der zu bestimmten Themen und Problemen eine Art von Einheitsmeinung verbreitet und Widersprüche nicht zulässt.
Geht es also gar nicht in erster Linie um Lügen und falsch dargestellte Fakten, sondern kritisieren sie nur, dass sie ihre Meinung nicht wiederfinden? Allerdings gab es in der letzten Zeit genug Gründe – auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern – an deren Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Die Frage ist nur, ob hier bewusst falsch berichtet wird oder ob die Einseitigkeit und Oberflächlichkeit nicht nur System hat, sondern auch im System liegt.
Sicher, es gibt Journalistinnen und Journalisten, die eine politische Agenda verfolgen, die Politik machen wollen und bereit sind, einseitig zu berichten. Wenn BILD-Redakteure Politikerinnen und Politiker anrufen, dann haben sie meist für einen schon das passende Zitat für die Geschichte parat.
Sicher, es gibt Netzwerke aus Politikerinnen und Politikern, Journalistinnen und Journalisten und Unternehmerinnen und Unternehmern, die zielgerichtet die Öffentlichkeit beeinflussen wollen, um ihre Interessen zu befördern. Die Bilderberger sind da nur ein Beispiel.
Und sicher, es gibt Journalistinnen und Journalisten, die aufgrund ihrer Denkhaltung in Netzwerke eingebunden werden und so Zugang zu Exklusivinformationen erhalten, die dann in die Berichterstattung einfließen. Dr. Uwe Krüger von der Leipziger Universität hat dies gut in seiner Promotion „Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse“ beschrieben.
Natürlich gibt es Beispiele für Rudeljournalismus, bei dem die Schwarmintelligenz versagt.
Doch die einseitige oder auch falsche Berichterstattung in einzelnen Medien kann nicht nur auf Netzwerke und Seilschaften abgeschoben werden. Dies wäre zu einfach. Nicht, weil mich dann sofort der Vorwurf treffen würde, ein „Verschwörungstheoretiker“ zu sein. (Oftmals sind Verschwörungen nichts weiter als Absprachen zwischen Interessengruppen zur Durchsetzung gemeinsamer Ziele. Dies ist in der Politik durchaus üblich.)
Es gibt nach Meinung des Referenten weitere Gründe, die das Gefühl befördern, dass die Medien nicht die gesamte Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln.
Bilden die Journalistinnen und Journalisten nicht einen sozial weitgehend abgeschlossenen Kreis, wie Siegfried Weichenberg festgestellt hat? Wie steht es um deren soziale Herkunft? Warum kommen sie nicht aus allen gesellschaftlichen Schichten?
Dazu nur ein Beispiel: In der Tagesschau-Redaktion in Hamburg gab es 2015 genau eine Redakteurin mit ostdeutscher Herkunft. Wenn bestimmte soziale Milieus vom Journalismus ausgeschlossen sind, dann fehlen auch bestimmte Sichtweisen, dann greift die Berichterstattung unter Umständen zu kurz.
Haben nicht einzelne Medien redaktionelle Leitlinien, über welche Themen in welcher Art und Weise zu berichten ist?
So kann der Vorwurf der „Lügenpresse“ auch entstehen, obwohl nicht gelogen, sondern nur ausgelassen, weggelassen wird.
Stehen die Redaktionen nicht auch unter einem hohen, zumeist auch doppelten Druck? Müssen sie nicht schnell berichten, um hohe Quoten, Marktanteile und Reichweiten sowie hohe Umsätze und Renditen zu generieren? Die Zeit für Recherche nimmt dabei natürlich ab, die Einfallstore für PR werden größer. Der Journalismus ist zu einem reinen Geschäftsmodell, eine „Magd des Marktes“ geworden. Dies verändert den Journalismus. Es hat dann auch Folgen für die öffentlich-rechtlichen Medien und deren Standards, wenn sich deren Konkurrenten verändern.
Hinzu kommt, dass das Internet es viel mehr und viel einfacher als früher ermöglicht, sich selbst zu informieren, Fakten zu überprüfen. Damit reicht es nicht mehr aus, wenn Medien nur ein Abbild der zumeist inszenierten Ereignisse geben. Sie müssen in die Tiefe gehen, Kontexte bieten, breiter auf verschiedene Sichtweisen eingehen.
Doch die Tagesschau ist immer noch – seit 60 Jahren – nur 15 Minuten lang.
Doch das Internet und die sozialen Netzwerke ermöglichen es nicht nur, sich selbst zu informieren, Fakten zu überprüfen, sondern sie können auch dafür sorgen, in der je eigenen Sicht gefangen zu bleiben, sich bestätigt zu fühlen in seiner Sicht und seiner Kritik an der Berichterstattung der Medien.
Hinzu kommt, dass es den etablierten Massenmedien schwer fällt, auf Hinweise und Kritik zu reagieren, mit den Nutzerinnen und Nutzern zu kommunizieren.
Steffen Grimberg schreibt in den Blättern für internationale Politik:
Die Kernfrage lautet: Waren die „alten“, etablierten Kanäle wie Presse, Radio und Fernsehen also in gewissem Sinne – und bitte in Anführungsstrichen – schlicht „asozial“ – und sind sie es, da sie ja weiter existieren, am Ende immer noch?
Auch wenn das wahrscheinlich keiner hören will: Die Antwort ist „Ja“! Denn ein soziales Miteinander zwischen klassischen medialen Akteuren – vulgo: Journalisten – und ihrem Publikum fand von Beginn an schlicht nicht statt. Und schlimmer noch: Die Zeit, in der der Leser/Zuschauer/Hörer in erster Linie der große Unbekannte war, den man gar nicht besser kennenlernen wollte, ist in vielen Redaktionen immer noch nicht vorbei – allen Lippenbekenntnissen zum Trotz. Die Rollenverteilung von Sendern und Empfängern war über rund anderthalb massenmedial vermittelte Jahrhunderte klar.
Diese Rollenverteilung ist aufgebrochen.
Wenn es langfristig darum geht, den Vorwurf der „Lügenpresse“ in die Geschichtsbücher zu verbannen, dann müssen Journalismus und Medien kritische Analyse und Aufklärung im sozialen Miteinander leisten. Das müssen wir immer wieder einfordern, auch wenn das allein noch nicht reichen wird.
Denn welche Unabhängigkeit, welche Freiheit können Medien haben, wenn die Informationen Warencharakter haben?
„Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein“, so Karl Marx in der Rheinischen Zeitung (1842). „Deine Freiheit ist nicht meine Freiheit, ruft die Presse dem Gewerbe zu. Wie du den Gesetzen deiner Sphäre, so will ich den Gesetzen meiner Sphäre gehorchen.“
Ach so, um zum Beginn zurückzukehren: Wie entgegnete denn Herr Keuner dem Herrn Wirr. Herr Keuner sagte:
Ich bin ein größerer Gegner der Zeitungen: Ich will andere Zeitungen.