Rezension: Chronik eines angekündigten Krieges

Rezension: Chronik eines angekündigten Krieges

Marcus Klöckner wird in seinem neuen Buch zum Archivar und lässt sich bei der Analyse von Marc Trachtenberg helfen.

Rezension von Michael Meyen

Der Titel ist genial. Chronik eines angekündigten Krieges. Da schwingt der Tod genauso mit wie die Vergeblichkeit. Jeder weiß es, keiner will es, und doch muss es passieren. Gabriel García Márquez. Der Westend-Verlag hat ein Faible für diesen Titel. 2020 schrieb Paul Schreyer die Chronik einer angekündigten Krise, stand damit wochenlang in den Bestsellerlisten und kam in den Jahrescharts des Spiegel auf Platz 20. Das Wort „Chronik“ hatte Schreyer dabei eher lateinamerikanisch ausgelegt und genau wie das literarische Vorbild eher ein Panorama entworfen, das alles, was wir auf der Bühne als „Corona“ beobachten konnten, in ein ganz neues Licht tauchte.

Nun also der Krieg und diesmal tatsächlich das, was man sich landläufig unter einer Chronik vorstellt. Marcus Klöckner steigt am 26. Januar 2022 ein. „Es begann mit 5000 Helmen“. Eine Meldung aus der Zeit, die Christine Lambrecht (ja, lang ist das her) von einem „ganz deutlichen Signal“ sprechen und das von Andrij Melnyk kommentieren lässt. Eine „reine Symbolgeste“, sagt der Botschafter in der Wochenzeitung. „Die Ukraine erwartet eine 180-Grad-Kehrtwendung der Bundesregierung, einen wahren Paradigmenwechsel.“ Klöckner merkt an, dass „weite Teile der Presse“ die Sache mit den Helmen als „lächerlich“ kritisiert haben, und belegt das mit zehn Schlagzeilen.

In diesem Stil geht es weiter bis zum 13. April 2025. Meldungen aus dem In- und Ausland, veröffentlicht in den Leitmedien oder auf Portalen der Gegenöffentlichkeit, Posts auf Facebook und X, Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes und der russischen Botschaft. Hin und wieder eine Anmerkung des Chronisten, aber längst nicht so dominant wie in seinem Bestseller „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen“ von 2022. „Eine deutsche Sicht“ steht diesmal über Klöckners Dokumentation. In der Einleitung schreibt er:

Sie beinhaltet einerseits zwar auch Ereignisse, die den Ukraine-Krieg betreffen, spiegelt aber vor allem auch die Berichterstattung wider. (S. 10)

Entstanden ist so ein einzigartiges Zeitdokument, in dem der Kriegsgegner Marcus Klöckner die allermeiste Zeit in der Deckung bleiben kann. Das Material steht für sich und kommentiert sich selbst.

Historische Tiefe bekommt diese Chronik durch einen Text von Marc Trachtenberg, einem US-Politikwissenschaftler, Jahrgang 1946, der sich auf den alten und den neuen kalten Krieg spezialisiert hat und in diesem Buch die ewig junge Frage nach den Versprechen neu aufrollt, die der Westen der Sowjetunion 1990 in Sachen Nato-Osterweiterung gegeben hat. Wenn man so will: die Vorgeschichte der Vorgeschichte, die manche erst 2014 beginnen sehen und die bei Marc Trachtenberg wenigstens andeutungsweise bis zu Woodrow Wilson und Versailles verlängert wird und bis zur Nachkriegsordnung von 1945.

Dieser Text, in den USA schon vor ein paar Jahren der veröffentlicht und nun übersetzt von Ekkehard Sieker, liefert, wenn man so will, das, was Paul Schreyer und Gabriel García Márquez den Leser in ihren Geschichten entdecken lassen. Hier wie dort sind wir selbst gefordert. Marc Trachtenberg sagt: Wie man die westlichen Zusagen, ihre Verbindlichkeit und mögliche Täuschungsabsichten sieht, hänge „von den moralischen und politischen Werten ab, die man vertritt“ (S. 64).

Bei Marcus Klöckner ist das keine Frage. Er rundet seine Chronik mit einer „Schlussbemerkung“ ab, die den Übergang von der Ampel zu Schwarz-Rot einfängt und mit der Feststellung endet, dass das „Feindbilddenken“ im Vordergrund stehe und die „Positionen und Überzeugungen“ festgefahren seien. Klöckners letzter Satz ist so wuchtig wie das Buch:

Der Titel „Chronik eines angekündigten Krieges“ lässt sich demgemäß auch im Hinblick auf einen zukünftigen Krieg zwischen Russland und der NATO lesen – möge es nicht so weit kommen. (S. 205)

Für die knapp 500 Fußnoten und Literaturverweise gibt es übrigens einen QR-Code. Um bei García Márquez zu bleiben: Lesen in den Zeiten der Papierknappheit.

Schmidt

Marc Trachtenberg, Marcus Klöckner: Chronik eines angekündigten Krieges, Die Ukraine und das Versagen der Diplomatie. Frankfurt/Main: Westend 2025. 208 Seiten, 20 Euro.
https://publikumskonferenz.de/forum/viewtopic.php?p=10900#p10900

 

Fördermitglied werden