Schweizer Nachlese: Zahlen und Zynismus am Gedenktag

Schweizer Nachlese: Zahlen und Zynismus am Gedenktag

„Nie vergessen!“ befiehlt Blick, die Schweizer Bild-Zeitung, am  7. Oktober unübersehbar dem Betrachter auf der oberen Hälfte seiner Frontseite, in hyperdicken Lettern. Und im Teaser ist das „Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung“ vor einem Jahr ebenfalls in Dickschrift hervorgehoben, der Folgesatz weiss, dass „bis dahin noch von einem Frieden geträumt“ werden konnte, aber seither „herrscht nur noch die Angst vor einem grossen Krieg“. Immerhin: das Wort „träumen“ scheint irgendwie darauf hinweisen zu wollen, dass das, was bis vor einem Jahr war, auch kein Frieden war, allerdings will Blick alle und jeden unbedingt vergessen machen (wie ja die andern Mainstreamler auch), dass in die Nahost-Friedensträume von uns Transatlantikern die der Palästinenser noch nie so richtig mit einbezogen waren, und dass sie auch noch nie traumhafte Konsequenzen für sie hatten.

Beitrag von Benjamin Kradolfer

Mit diesem Blick am Kiosk auf Blick begnügt sich mein Medien-Interesse für diesen heutigen Exklusiv-Gedenktag, und nur eines bestimmten Zahlen-Interesses wegen werfe ich noch einen Blick auf NZZ-Online:

Dort zeigt das Schlachtometer heute folgendes an:

„Im Gazastreifen wurden laut Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums mehr als 41’800 Palästinenser getötet und mehr als 97’100 verletzt. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Zudem unterscheidet die Terrororganisation in ihren Angaben nicht zwischen getöteten Zivilisten und getöteten Hamas-Kämpfern.“

(Vor vier Tagen lauteten die Zahlen noch 41’500 bzw. 96’000.) Bis auf die steigenden Ziffern hat das ganze Jahr über alles vor und nach den Zahlen Tag für Tag wortwörtlich exakt so wie heute dagestanden, die Redaktion hat von Angang an mit höchster Effizienz vorgearbeitet: sowohl der Hinweis der Überprüfbarkeit, auf den allerdings bei Angaben von israelischer Seite kaum je Wert gelegt wurde (oder nur selten), als auch der auf die Unterscheidung von zivil und uniformiert – die NZZ selbst aber legte ebenfalls kaum je Wert auf eine Unterscheidung zwischen palästinensischen und nicht-palästinensischen Opfern, also z.B. denjenigen unter UNO-Mitarbeitern oder den Journalisten vor Ort: Auffällig auch: sie ist bis heute nicht interessiert an Zahlen zu den toten bzw. verletzten israelischen Soldaten. Und selbstredend war auch kaum je davon die Rede, dass unter den Trümmern noch ungezählte weitere Opfer verwesen, und ich kann mich auch an keinerlei Angaben oder Mutmassungen darüber erinnern, wie viele an Mangelernährung, Krankheiten etc., also einfach: nicht direkt an den Bombardements eingegangen sind; (falls davon hie und da mal die Rede war, ging das auf jeden Fall im Riesenhaufen der Nicht-Erwähnungen unter).

Begnügen wir uns aber mit den nicht unabhängig überprüfbaren Zahlen, dann macht das etwas mehr als 900 Kaputt-Bombardierte pro Woche seit genau einem Jahr (nicht mitgezählt die Toten und Verletzten vom 7.10.’23 selber). Das reicht der israelischen Führung wie auch dem Mainstream noch lange nicht für einen Genozid, das ist alles blosse In-Anspruchnahme des Rechts auf Selbstverteidigung. Wie viele Bilder aber von Kaputt-Bombardierten und deren Hinterbliebenen wurden uns in diesem Zeitraum gezeigt? (Auf allen Kanälen?) Ich habe es nicht überprüft.

Ich erinnere es nur unabhängig: Da begeht der Mainstream auf all seinen Kanälen seit einem Jahr einen regelrechten Mortizid. Tag für Tag.

Ganz anders hingegen bzgl. der Toten vom 7.10.’23: ausser zahlreichen Beiträgen zur Trauer und den Traumata der Hinterbliebenen, legte NZZ auch hier durchaus Wert auf Zahlen-Genauigkeit:

„Durch die Massaker der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 wurden rund 1200 Israeli und Angehörige anderer Staaten getötet, mehr als 4600 wurden verletzt. Laut der Armee befinden sich noch 101 Geiseln in Gefangenschaft der Hamas – unter ihnen 33 Personen, die Israel bereits für tot erklärt hat“

– auch das ist genau das Sprüchlein, das (bis auf die Zahlen-Anpassungen bzgl. der Geiseln) seit einem Jahr tagtäglich das Schlachtometer einläutet. Und analog hielten es ungezählte andere Mainstream-Medien.

Unabhängig, von mir selber nach Adam Riese addiert, macht das also eine alles-in-allem-Jahresbilanz (allerdings auch eine Rechnung, wie sie für NZZ anscheinend ebenso undenkbar scheint wie für Blick) von mehr als 43’033 Toten und 101’700 Verletzten in einem Jahr.

…was aber natürlich von der Realität auch bereits wieder überholt worden ist: Die inzwischen ebenfalls anfallenden Libanon-Opfer hat man noch nirgends mit eingerechnet.

Immerhin aber sass ich noch am späten Nachmittag des Vorgedenktages auf cirka 1300 m ü.M. zwischen den alpinen Bergriesen des Alublatals im Schweizer Kanton Graubünden an einem Bahnwagenfenster mit herrlichster Sicht auf und in die Alpenwelt auf meiner Heimreise ins sog. Unterland (ca. 430 m ü.M.), unter lauter Bildschirmen, die uns Fahrgäste in Endlos-Schlaufe vom Wichtigsten aus aller Welt unterrichteten.

Wahrlich, ich sage euch: Welch ein Glück, noch in den entlegensten Alpentälern aus der überseeischen National Football League die jüngsten Schweizer Scores und Assists der Giants gegen die Vikings zu erfahren, oder dass irgendwo im Bundesstaat Washington die Schäferhündin Bita ihrem Besitzer das Leben gerettet hat, indem sie sich, nachdem dieser gestürzt war, einfach auf die Fahrbahn setzte, bis irgendein Autolenker anhielt und Hilfe leistete, oder dass der luxemburgische Grossherzog Henry seinen Sohn Guillaume dieser Tage zum Statthalter ernennen wird, um das Herzogtum auf möglichst umsichtige Weise auf die Nachfolge vorzubereiten, oder dass 6,7 Mio Besucher „auf der Wiesn“ waren (auch bei uns Schweizer Hinterwäldlern ist die bierselige Münchner Terminologie selbstverständlich Allgemeingut) und dass die Anzahl der Straftaten glücklicherweise um 25% gesunken ist, dazwischen aber eben auch immer wieder – und damit sind wir glücklich wieder im Nahen Osten –, dass es im Libanon „erneut schwere israelische Angriffe“ gegeben hat, eine Agentur meldet deren 25 allein im Süden Beiruts, und dabei wurden – sage und schreibe: – „unter anderem auch eine Tankstelle und ein weiteres Gebäude“ getroffen. Wie nun allerdings anlässlich eines Jahrestags wie des 7. Oktobers solche bestimmt unabhängig überprüfte Tankstellen und weitere Gebäude am aussagekräftigsten in eine Opfer-Bilanz einzurechnen wären – darüber bin ich mir mit selber noch nicht ins Reine gekommen.

Immerhin muss aber zugegeben werden: Sieht man von allen nicht-gezählten Opfern ab, liegt die Hamas mit ihren 1200 Toten und 4600 Verletzten am genau vorjährigen 7.10. eindeutig über dem seitherigen Tagesdurchschnitt der IDF. Damit scheint die Schuldfrage für NZZ & Blick & cons. ein für allemal geklärt. Auch seit genau einem Jahr. Erkenntnisgewinn in dieser Zeit: 0 (null).

Oder rechnet jemand damit, dass künftig am 8.10.2024, speziell des Beginns des Gaza-Krieges gedacht wird?

 

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