Greek Myths 17-20

Greek Myths 17-20

Kapitel 17 – Die unpünktlichen Griechen

Storytelling in der ARD-Griechenlandberichterstattung 2015 – was bisher geschah…
Vorwort: Storytelling – die Kunst, Geschichten zu erzählen
Kapitel 1 – Das Trojanische Pferd
Kapitel 2 – Über griechische Helden, Märchen und Mythen
Kapitel 3 – Was Orwell nicht wusste
Kapitel 4 – Die Konstruktion wünschenswerter Welten
Kapitel 5 – The Hidden Persuaders
Greek Myths 1-3
Greek Myths 4-6
Greek Myths 7-9
Greek Myths 10-13
Greek Myths 14-16

Analytischer Teil: Es war einmal…

17 Die Geschichte von den unpünktlichen Griechen – die Reformliste

tagesschau.de vom 24.02.2015 [160]

„Athen nimmt sich Zeit bis zum Morgen“ „Griechenland hält Frist nicht ein“.

Tagesthemen vom 23.02.2015, 22:15 Uhr [161]

Miosga 17Caren Miosga (WDR) zur griechischen Reformliste: „Heute nun – ausgerechnet zum Beginn der orthodoxen Fastenzeit – war Abgabetermin. Doch seit dem Abend hören wir: Die Regierung schafft es erst morgen früh, diese außergewöhnlich schwere Hausaufgabe fertigzustellen […].“

Korrespondentenbeitrag von Peter Dalheimer (BR)/Off:

Unweit der Akropolis 17
Unweit der Akropolis in Athen
Beginn Fastenzeit 17
wurde heute der Beginn der Fastenzeit gefeiert. Aschermontag heute in Griechenland – und da lässt man traditionell Drachen steigen.
Drachen steigen 17
Gute Stimmung trotz des Schuldenstreits […].

 

Fakten und Analyse:

Schlüsselbild: feiernde Griechen
Schlüsselwörter: ausgerechnet zum Beginn der orthodoxen Fastenzeit, schafft es erst, außergewöhnlich schwere Hausaufgabe, gute Stimmung

Falschinformation:

Die Reformliste ist fristgerecht am 23. Februar 2015 vor Mitternacht in Brüssel eingegangen, wie Jeroen Dijsselbloem am 24.02.2015 bestätigt. [162] Die griechischen Reformschläge sind bereits am Nachmittag bei der EU eingegangen, um Änderungswünsche der EU-Kommission berücksichtigen zu können. Darauf weist Christian Feld im Schaltgespräch korrekt hin.

Ob es zutrifft, dass die EU dann Griechenland bat, die offizielle/finale Liste erst am nächsten Morgen zuzusenden, wie Yanis Varoufakis am 23. Februar 2015 im CNN Interview erklärte, ist nicht überprüfbar. [163] In jedem Fall ging die griechische Reformliste rechtzeitig vor Mitternacht ein.
Die Nachrichtenlage zum Zeitpunkt der Tagesthemen deckte nicht die Behauptung der Moderatorin, dass Griechenland es „ausgerechnet zum Beginn der orthodoxen Fastenzeit“ nicht „schafft“, seinen „Hausaufgaben“ pünktlich nachzukommen.

Rekontextualisierung/Reframing

Durch Andeutung (Innuendo) stellt die Moderatorin eine Scheinkausalität her zwischen dem angeblichen Versäumnis der griechischen Verhandlungsseite, ihren Pflichten pünktlich nachzukommen, und dem Abgabetermin der Reformliste „ausgerechnet zum Beginn der orthodoxen Fastenzeit“ (Anspielung durch irreführende Akzentuierung), also zur Rosenmontagsfeier in Griechenland. Mit dem Begriff „Hausaufgaben“ ruft Miosga erneut den Erwachsenen-Teenager-Frame auf.

Im darauffolgenden Filmbeitrag bildet das traditionelle Drachensteigenlassen am Rosenmontag in Griechenland dann die Rahmenerzählung („Gute Stimmung trotz Schuldenstreit“), vor deren Hintergrund das Thema Reformliste erörtert wird (Klammergeschichte).

Zwar äußert der Korrespondent an einer Stelle des Beitrags seine Vermutung, dass trotz des Feiertags in Griechenland in manchen Regierungsbehörden „Hochbetrieb herrschen dürfte“. „Die Liste mit den Reformvorschlägen muss fertig werden“. Aber der Zuschauer wurde bereits von der Moderatorin auf den aktuellen Kenntnisstand gebracht, dass die griechische Regierung den Abgabetermin „ausgerechnet zum Beginn der orthodoxen Fastenzeit“ nun angeblich doch nicht einhalten werden könne.
In den Tagesthemen des darauffolgenden Tages wird an einer Stelle beiläufig erwähnt, dass die Liste pünktlich eingegangen ist. Eine ausdrückliche, d.h. transparente Korrektur fand nicht statt.

Auf der offiziellen Internetseite der Tagesschau steht bis heute: „Athen nimmt sich Zeit bis zum Morgen“ und „Griechenland hält Frist nicht ein“.

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[160] tagesschau.de. Athen nimmt sich Zeit bis zum Morgen, 24.02.2015.
[161] Tagesthemen 23.02.2015.
[162] Jeroen Dijsselbloem. Stellungnahme zum rechtzeitigen Erhalt der Reformliste.
[163] Yanis Varoufakis. Interview mit CNN am 23.02.2015.

Kapitel 18 – Noch einmal die unpünktlichen Griechen

Die Liste ist da!

Analytischer Teil: Es war einmal…

18 Die Geschichte von den unpünktlichen Griechen geht weiter – Griechenland lässt Frist verstreichen – bestätigt nun auch die Sprecherin der EU-Kommission?

„Die Liste aus Athen ist da“ von Andreas Meyer-Feist (HR), tagesschau.de am Morgen des 24.02.2015, 08:42 Uhr [164]

„[…] Aber auch bis Mitternacht lag in Brüssel noch nichts vor. Erst am frühen Morgen kam sie an, die Liste, die Athen vor der Pleite retten soll. […]“

Screenshot

Falschinformation:

Hier wird der boulevardeske Erzählstil des Storytelling besonders gut deutlich. Inhaltlich aber ist auch diese Meldung frei erfunden: Auch Mina Andreeva bestätigt auf Twitter den rechtzeitigen Erhalt der Reformliste. [165]

Tweet Liste

Auch dieser Fehler wurde – wie sämtliche vorhergenannten Falschinformationen – von der ARD bis heute nicht berichtigt.

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[164] Andreas Meyer-Feist: „Die Liste aus Athen ist da“, tagesschau.de, 24.02. 2015.
[165] Mina Andreeva. Tweet vom 24.02.2015.

Kapitel 19 – Der Trickster entlarvt sich selbst

fast zeitgleich Varou18

Analytischer Teil: Es war einmal…

19 Die Geschichte vom sich selbst entlarvenden Trickster – die Bundestagsentscheidung über die Verlängerung der Kreditvereinbarung

„Bei einer Behauptung des Gegners müssen wir suchen, ob sie nicht etwa irgendwie, nötigenfalls auch nur scheinbar im Widerspruch steht mit irgendetwas anderem, was er früher gesagt oder zugegeben hat […] oder mit seinem eigenen Tun und Lassen. […]. Es wird sich doch irgendwie eine Schikane herausklauben lassen“. [167]
Arthur Schopenhauer: Eristische Dialektik oder die Kunst, Recht zu behalten

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Tagesschau vom 27.02.2015 [166]

Korrespondentenbeitrag von Peter Dalheimer (BR):

Peter Dalheimer (BR)/Off: Finanzminister Varoufakis hatte heute die Debatte über die Reformunwilligkeit seiner Regierung befeuert: Er habe die Reformvorschläge bewusst unbestimmt formuliert, um die notwendige Zustimmung nicht zu gefährden.
fast zeitgleich Varou18gespaltene Zunge
George Tzogopoulos [Politikwissenschaftler]/On: Die griechische Regierung spricht offenbar mit gespaltener Zunge – Sie erzählt nach innen anderes als nach außen.

Tagesthemen vom 27.02.2015 [168]

Caren Miosga (WDR): „Griechenland wird weiter Geld aus Europa bekommen. Dafür hat der deutsche Bundestag heute mit überwältigender Mehrheit gestimmt. Aber – zwei Herzen wohnen, ach, in meiner Brust: Wolfgang Schäuble MUSSTE heute im Bundestag für ein verlängertes Hilfsprogramm werben, obwohl er sich über den mangelnden Reformwillen seines griechischen Kollegen mehrfach geärgert hat […].“
Miosga19
Wie die Anmoderation beginnt auch der folgende Korrespondentenbeitrag von Julia Krittian (MDR) mit einer empathisch-identifikatorischen Erzählhaltung:
es ist einen rede19
Julia Krittian/Off: Es ist eine Rede, die ihm wahnsinnig schwerfällt, sagt Wolfgang Schäuble, der doch selten um ein Wort verlegen ist, sei es mahnend, werbend oder tosend. Heute MUSS er von allem etwas liefern. Athen habe viel Vertrauen zerstört, so der Bundesfinanzminister, dennoch bittet er die Abgeordneten um eine Verlängerung der Griechenland-Hilfen. Keine neuen Milliarden, nur mehr Zeit: 4 Monate, um Reformen umzusetzen.
wir deutsche 19
Wolfgang Schäuble/On: Wir Deutsche sollten alles daran [sic] tun, dass wir Europa zusammenhalten […]. Natürlich heißt Solidarität nicht, dass man sich gegenseitig erpressen kann, sondern dass jeder seinen TEIL dazu beitragen muss.
Julia Krittian/Off: Der griechische TEIL besteht oft genug aus Provokationen: Fast zeitgleich erklärt Finanzminister Varoufakis im griechischen Fernsehen, seine Reformpläne seien bewusst schwammig formuliert, um die Zustimmung der Euro-Parlamente nicht zu gefährden. Das sei, Zitat: ‚produktive Undeutlichkeit.‘
fast zeitgleich Varou18
In Berlin produziert das wachsende Wut, vor allem in Schäubles Fraktion. 29 von 32 Nein-Stimmen kommen von CDU/CSU […].
berlin produzierte19Gebrauchtwagen
Klaus-Peter Willsch/On: Schauen Sie sich Tsipras an, schauen Sie sich Varoufakis an, würden Sie von denen einen Gebrauchtwagen kaufen?

Fakten und Analyse:

Schlüsselwörter: gespaltene Zunge (O-Ton), Reformunwilligkeit, befeuert, geärgert, Provokationen, wachsende Wut, Gebrauchtwagen (O-Ton)

Falschinformation und Dekontextualisierung

a) Der von Yanis Varoufakis verwendete Begriff „constructive ambiguity“ (auch „creative ambiguity“) bezeichnet eine Verhandlungstechnik im Bereich des Konfliktmanagements, die auf Henry Kissinger zurückgehen soll und auf der Überzeugung basiert, dass für den Fall, dass zwei Verhandlungspartner in einem Punkt (noch) nicht übereinstimmen, durch einen ambigue, also unbestimmt bzw. mehrdeutig formulierten Text beide Interessen berücksichtigt werden können. Manchmal ist dieser ambigue formulierte Text Ausgangspunkt für weitere Verhandlungen, in deren Verlauf das strittige Thema gelöst werden soll. Konstruktive Ambiguität war beispielsweise ein Markenzeichen des Oslo-Abkommens zwischen Israel und den Palästinensern.

b) Varoufakis spricht im Interview mit ANT1 von der Formulierung der gemeinsamen Eurogruppenvereinbarung vom 20. Februar 2015 und eben nicht von der griechischen Reformliste vom 23. Februar 2015. In Bezug auf den strittigen Punkt der Höhe des Primärüberschusses sei auf Wunsch der europäischen Partner keine genaue Zahl angegeben worden, sondern der Begriff „angemessener Primärüberschuss“ (s. dazu auch Geschichte 15).

Dies habe den europäischen Partnern erlaubt, die Vereinbarung durch das Parlament zu bringen. Auch Yanis Varoufakis begrüßt konstruktive Ambiguität als Verhandlungstechnik: „Ich werde keine Zahlen versprechen, solange ich nicht sicher bin, diese erzielen zu können.“ [169] Tatsächlich wurde in den folgenden Verhandlungsmonaten über den genauen Wert des Primärüberschusses intensiv verhandelt.

Mit Reformunwilligkeit oder Trickserei hat das nichts zu tun und hätte es nicht einmal gehabt, wenn der griechische Finanzminister tatsächlich von der Reformliste gesprochen hätte: Denn der Erfolg/die Anwendung dieser Verhandlungstechnik ist ihrer Natur nach immer auf gegenseitige Akzeptanz angewiesen, ihr Ziel ist immer die Konfliktentschärfung durch Berücksichtigung beider Interessen.

Und selbstverständlich lag dem Bundestag der von allen Vertragspartnern gemeinsam beschlossene Eurogruppenvertrag samt der in ihm enthaltenen Vagheit der Formulierung („angemessener Primärüberschuss“) VOR der Abstimmung vor.

c) Unwahr ist auch, dass Yanis Varoufakis den Begriff „constructive ambiguity“ erst zeitgleich mit der Bundestagsabstimmung im griechischen TV geäußert habe. Der griechische Finanzminister hatte diese Verhandlungstechnik bereits kurz nach der Eurogruppenvereinbarung transparent für alle auf Twitter in Englisch hervorgehoben. [170]

Rekontextualisierung und Bedeutungsreframing:

Die Aussage des griechischen Finanzministers wird als Beleg der ihm in der Anmoderation bereits unterstellten Reformunwilligkeit verwendet. Durch gezielte Zusammenstellung von Zitaten (Wolfgang Schäuble, Klaus-Peter Willsch), Falschinformation/-übersetzung, Bedeutungsreframing des Ausdrucks „constructive ambiguity“ sowie Begriffe wie „befeuert“ (Tagesschau) oder „Provokationen“ (Tagesthemen) wird Yanis Varoufakis‘ Aussage über die gemeinsame Anwendung einer Verhandlungstechnik aus dem Bereich des Konfliktmanagements als selbstentlarvendes Eingeständnis einer Gaunerei dargestellt (Strohmann-Argument). Damit bestätigt die ARD ihren nur einen Tag nach der Eurogruppenvereinbarung verbreiteten Verdacht, die griechische Regierung spiele ein „Spiel“ (s. Geschichte 16).

Sowohl in den Tagesthemen als auch in der Tagesschau zeigt sich die absichtsvolle Nutzung von Implikaturen innerhalb einer Dramaturgie, die es der ARD erlaubt, den griechischen Finanzminister der unlauteren Trickserei zu bezichtigen, ohne dies selbst explizit aussprechen zu müssen (ad hominem/Innuendo).

In der Tagesschau fungiert dabei der Politikwissenschaftler George Tzogopoulos als „opportuner Zeuge“ (Lutz M. Hagen) [171]. Der Experte, der Yanis Varoufakis‘ Aussage fälschlicherweise als Beleg für die „gespaltene () Zunge“ der griechischen Regierung bewertet, ist Element des klassischen Autoritätsarguments (argumentum ad verecundiam), das durch die gezielte Auswahl von „Expertenmeinungen“ die Legitimität eines politischen oder wirtschaftlichen Standpunkts untermauern soll. [172]

Dramaturgische Strategie

Die Tagesthemen vom 27. Februar 2015 zeigen eindrucksvoll, wie durch bestimmte Frames konventionalisierte Emotionen erzeugt werden können. Dass dem Helden Verletzungen seitens des Schurken zugefügt werden, führt, wie George Lakoff in seiner Theorie der konzeptuellen Metapher ausführt, immer zu Empörung und Ärger beim Rezipienten und dem Wunsch nach Bestrafung.

Dieser Ärger wird umso intensiver erlebt, je wehrloser und je moralischer das Opfer der Verletzung dargestellt wird: In einer empathisch-identifikatorischen Erzählhaltung stellen sowohl Moderatorin als auch Korrespondentin den Bundesfinanzminister als jemanden dar, der trotz seines Ärgers über die angebliche Reformunwilligkeit und „die Provokationen“ der Syriza-Regierung um die Verlängerung der Kreditvereinbarung werben „musste“ (gleiches Wort in Anmoderation und Beitrag) und bei den Bundestagsabgeordneten um Zustimmung „bittet“, obwohl es ihm so „wahnsinnig schwer fällt“.

Die edlen Motive des „bekennenden Europäers“ (s. Geschichte 8): der europäische Integrationsgedanke: „Wir Deutsche sollten alles daran tun, dass wir Europa zusammenhalten.“

Durch die aufsichtige Kameraperspektive des in der Anmoderation verwendeten Hintergrundbildes wirkt Wolfgang Schäuble verletzlich, fast isoliert und unterlegen. Dies alles bildet die dramaturgische Kontrastfolie zum schnöden Verrat des griechischen Finanzministers, der angeblich „fast zeitgleich“ vor der griechischen Öffentlichkeit mit seinem schändlichen Betrug prahlt.

Aufgrund der Falschübersetzung (Reformliste statt Eurogruppenvereinbarung) und der daraus von der ARD abgeleiteten Beschuldigung wurde Programmbeschwerde eingelegt. Eine diesbezügliche Programmbeschwerde des Wirtschaftsjournalisten Norbert Häring lehnte die ARD ab. [173]
Die diesbezüglich an das ZDF gerichtete Programmbeschwerde der Publikumskonferenz lehnte ZDF-Intendant Bellut ab. [174]

Beide Sender lehnten eine Korrektur ab.

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[166] Tagesschau 27.02.2015.
[167] Arthur Schopenhauer: a.a.O., S. 44.
[168] Tagesthemen 27.02.2015.
[169] Yanis Varoufakis. Interview mit dem griechischen Sender ANT1, 27.02. 2015.
[170] Yanis Varoufakis. Tweet vom 21.02.2015.
[171] Lutz M. Hagen: a.a.O.
[172] Vgl. z.B. Arthur Schopenhauer: a.a.O., Kunstgriff 30, Autoritäten statt Gründe angeben, S. 57.
[173] Norbert Häring: Programmbeschwerde zur Tagesschau vom 27.02.2015.
[174] Publikumskonferenz: Programmbeschwerde zur ZDF-heute-Sendung vom 27.02.2015.

Kapitel 20 – Die Nun-Ja-Freigiebigkeit der griechischen Mentalität

Babadaki20

Analytischer Teil: Es war einmal…

20 Die Geschichte von der Nun-Ja-Freigiebigkeit der griechischen Mentalität – wer zahlt die Rechnung für das üppige Babadaki?

Fortsetzung der Tagesthemen vom 27.02.2015 (Teil II)

Augenbrauen 20Caren Miosga (WDR): „Wolfgang Schäuble ist übrigens in Freiburg im Breisgau geboren, also Badener – wird aber immer wieder zu Unrecht ins Schwabenland einsortiert: Denn der Finanzminister gilt als [Kopfbewegung zur Hervorhebung] geradezu vorbildlich fleißig und sparsam.“

So leitet die Moderatorin über zu den „ausgerechnet“ in Schwaben lebenden Griechen, die „den Schwaben in sich entdeckt haben“, „gute Geschäfte machen“ und „womöglich bald die Rechnung mit bezahlen müssen für ihre hellenischen Landsleute“.

In dem folgenden Beitrag von Korrespondentin Jenni Rieger (SWR) äußern sich fünf beruflich erfolgreiche Griechen mit „schwäbischer Lebensart“ aus dem Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt kritisch zum Sinn weiterer „Finanzhilfen“: Die Korrespondentin fasst die Aussagen so zusammen:

„Die Griechenschwaben – sie sind kritisch. Verständnisvoll, das schon, auch nicht knauserig, nur eben zweifelnd, ob immer mehr Geld auch wirklich die Probleme lösen kann.“

Was sind die Probleme? Die Mehrheit der in dem Beitrag zu Wort kommenden Griechen ist sich einig: „Es muss sich tiefgründig etwas ändern“ oder in den Worten des griechischen Kioskbesitzers, der am ausführlichsten zu Wort kommt:

Händler„Das griechische Herz schlägt immer, aber ich bin auch Deutscher. Da sind zwei Herzen in meiner Brust: Wenn das Geld in die richtigen Töpfe kommt, richtig verwendet wird, spricht ja nichts dagegen- wenn es natürlich wieder läuft wie davor, verstehe ich natürlich, wenn die Leute sagen: ‚Nee, das ist viel zu viel.‘ Aber als Schwabe? Gut, ich hab auch ein bisschen die schwäbische Mentalität: Man guckt natürlich schon so jedem Groschen hinterher und guckt, ob er auch richtig verwendet wird.“

In der bedeutungsstarken Schlussposition fasst dann der griechische Karosseriebauer das mit noch so viel Milliarden nicht lösbare Problem zusammen:

langfristig schwarz20
„Ich seh‘ da langfristig schwarz, weil: Die Gesellschaft, die ist anders, die hat ’ne andere Mentalität, und das ist sehr, sehr schwer zu verändern.“

Den „Spagat“ (Jenni Rieger) der Mentalitätsunterschiede bringt die Korrespondentin am Ende des Beitrags noch einmal anschaulich auf den Punkt:

„Es ist eine schwierige Balance zwischen schwäbischer Sparsamkeit und griechischer Nun-Ja-Freigiebigkeit, zwischen
Früchtetörtchen20Babadaki20
kargem Früchtetörtchen                                           und üppigem Babadaki.“

Analyse:

Funktion und Wirkkraft des Beitrags

a) Dieser Ergänzungsbeitrag zur Bundestagsentscheidung erfüllt v. a. drei Funktionen:

Zum einen erinnert er den Zuschauer am Beispiel der sparsamen und erfolgreichen „Griechenschwaben“ daran, dass die „üppigen Babadaki“ von fleißigen und sparsamen Steuerzahlern in Deutschland bezahlt werden. Das Thema „Rechnung zahlen“ wird in der Anmoderation sowohl verbal als auch visuell hervorgehoben, und zwar in Form der Serviettenaufschrift als Hintergrundbild.

Zweitens werden am Beispiel der „Griechenschwaben“ die Zweifel des Bundesfinanzministers veranschaulicht: „Finanzhilfen“ trotz Zweifel am Reformwillen, so hatte Caren Miosga den vorangegangenen Beitrag zur Bundestagsentscheidung anmoderiert und dabei auch die an Goethe angelehnte Formulierung des griechischen Kioskbesitzers von den „zwei Herzen“ in der Brust verwendet (s. Geschichte 19).

Und schließlich wird in Gestalt ausgewählter Griechen in Stuttgart auch (scheinbar) der Nachweis erbracht, dass die sozialen bzw. wirtschaftlichen Probleme Griechenlands ausschließlich auf die „Nun-Ja-Freigiebigkeit“ (ironisiert), also Verschwendungssucht der griechischen Mentalität zurückzuführen seien, was für den Zuschauer auch daran zu sehen ist, dass jene Griechen, die wie die Griechen in Bad Cannstatt die schwäbische Mentalität – also die deutsche Tugend der Sparsamkeit – verinnerlicht hätten, alle beruflich erfolgreiche Menschen seien. Caren Miosga spricht in ihrer Anmoderation von „guten Geschäften“, im Beitrag heißt es dann, dass das griechische Geschäft „floriert“.

Eine komplexe wirtschaftliche Problematik wird auf das triviale Niveau national-stereotypischer Klischees heruntergebrochen.

Dieser Beitrag bewirbt die Position der Bundesregierung. Er unterscheidet sich durch nichts von einem professionellen PR-Beitrag.

Nicht von ungefähr hebt Caren Miosga in ihrer Anmoderation einleitend den „vorbildlich fleißigen und sparsamen“ Bundesfinanzminister hervor. Mit diesem Beitrag werden Erinnerungen an Angela Merkels berühmten Leitsatz von der Schwäbischen Hausfrau und deren Lebensweisheit aktiviert:

„Man kann auf Dauer nicht über seine Verhältnisse leben“ (2008, Parteitag Stuttgart).

b) Das hohe Beeinflussungspotential dieses Beitrags basiert v. a. auf drei Faktoren:

Zum ersten verhindert das große Identifikationsangebot des Beitrags eine für die kritische Reflexion notwendige Distanz: Sowohl Wolfgang Schäuble als auch die „Griechenschwaben“ verkörpern hier in Abgrenzung zu den „hellenischen Landsleuten“ die deutsche Tugend der Sparsamkeit.

Des Weiteren wird eine für die kritische Reflexion notwendige Distanz durch narrative, reportage-ähnliche Elemente verhindert, die den Zuschauer in das Erlebnis von (erzählter) Realität, also tatsächlicher Erfahrung eintauchen lassen. So beginnt der Beitrag folgendermaßen: „Mittagspause in Deutschland. Ein Duft nach Mokka – stark und süß wie in der Heimat“ oder später „Es ist eine regnerische Mittagspause heute in Stuttgart/Bad Cannstatt. Kein guter Tag fürs Geschäft, auch nicht fürs griechische, das hier ansonsten floriert.“

Und schließlich steigert die Glaubwürdigkeit des Beitrags, dass die Personalisierung von Schäubles Position hier in Gestalt nicht etwa schwäbischer Hausfrauen, sondern im Schwabenland lebender Griechen erfolgt, die hier als „opportune Zeugen“ (Lutz M. Hagen) innerhalb der journalistischen Berichterstattung fungieren.

Es ist in diesem Fall eine Variation des Autoritätsarguments (argumentum ad verecundiam), das üblicherweise durch die gezielte Auswahl von Expertenmeinungen die Legitimität eines politischen oder wirtschaftlichen Standpunkts untermauern soll (s. Geschichte 19). Die glaubwürdigsten Experten in Fragen der griechischen Mentalität sind Griechen selbst. Welche Suggestivfragen gestellt, welche Antworten heraus- bzw. zusammengeschnitten worden sind, das weiß der Zuschauer nicht. Ihm wird suggeriert, die vermittelte Meinung sei repräsentativ für die „Griechenschwaben“.

Das Schlusskapitel folgt am 20.08.2016