Greek Myths 10-13

Greek Myths 10-13

Kapitel 10 Die Geschichte von der guten Mutter (Teil I)

Storytelling in der ARD-Griechenlandberichterstattung 2015 – was bisher geschah…
Vorwort: Storytelling – die Kunst, Geschichten zu erzählen
Kapitel 1 – Das Trojanische Pferd
Kapitel 2 – Über griechische Helden, Märchen und Mythen
Kapitel 3 – Was Orwell nicht wusste
Kapitel 4 – Die Konstruktion wünschenswerter Welten
Kapitel 5 – The Hidden Persuaders
Greek Myths 1-3
Greek Myths 4-6
Greek Myths 7-9

Analytischer Teil: Es war einmal…

10 Die Geschichte von der guten Mutter (Teil I) – ernsthaftes Bemühen und hohes Arbeitspensum auf der einen Seite…

Tagesthemen vom 12. Februar 2015 (Teil I) [127]

Caren Miosga (WDR) leitet über von den Minsker Verhandlungen zu den Verhandlungen über Griechenland:

Raute
„Die Dauer der Verhandlungen in Minsk darf auch als Indiz für das ernsthafte Bemühen der Beteiligten gelten […]. Nehmen wir nur mal das Pensum der Bundeskanzlerin – Anfang der Woche noch Staatsbesuche in Washington und Kanada, dann gestern erst Berlin, Trauerstaatsakt für Altbundespräsident von Weizsäcker, dann Minsk und von dort ging es für Merkel – [Moderatorin schüttelt verneinend den Kopf] – nicht etwa nach Hause – [Betonung durch Sprechpause] sondern nach Brüssel, zum Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU […].“

Analyse:

Das beiläufig daherkommende („Nehmen wir nur mal“) Lob für die ernsthaften Bemühungen und das Arbeitspensum der Bundeskanzlerin bildet den kontrastiven Hintergrund für die im folgenden Beitrag von Korrespondentin Bettina Scharkus kolportierten Gerüchte über die (angebliche) Unzuverlässigkeit und chaotische Unprofessionalität der griechischen Verhandlungsseite. Damit betritt der Archetypus der guten, aufopferungsvollen Mutter, die sich unermüdlich um das Gemeinwohl kümmert, die Bühne des griechischen Dramas.

Dass die Moderatorin während ihres annähernd halbminütigen Lobes für Angela Merkel fast durchgehend die Hände zur Raute faltet, ist ebenso wie das Kopfschütteln und die Betonung durch die Sprechpause Element einer kontextspezifischen nonverbalen Kommunikation. Der untrainierte Zuschauer nimmt solche paralinguistischen Signale (Tonfall und -höhe, Sprechmelodie, Wortbetonung, Sprechtempo, Rhythmus einschließlich Pausengestaltung, Gestik, Mimik) meist nur vorbewusst wahr. Sie liegen außerhalb seines kritischen Bewusstseins.

Im vorliegenden Fall wendet Caren Miosga eine NLP-Technik (Neuro-Linguistisches Programmieren) an: Sie verankert die durch die Hervorhebung von Merkels Aufopferungsbereitschaft erzeugten positiven Emotionen/Wahrnehmungen mit der typischen Geste der Kanzlerin.

Caren Miosgas Geste muss in ihrem emotionalisierenden Kontext bewertet werden: die rhetorisch eindringliche Würdigung der Aufopferungsbereitschaft der Bundeskanzlerin, deren sorgenvolles Gesicht die ARD zeitgleich im Großformat, also dem „Prototyp des Affektbildes“, auf die große Medienwand projiziert.

„Bilder dieses Typs sind in gewissem Sinne aus dem zeitlich-räumlichen Zusammenhang eines Geschehens herausgehoben und fokussieren sich ganz auf eine emotionale Qualität.“ [128]

Wie wichtig der ARD das Erzeugen positiver Gefühle für die Bundeskanzlerin ist, zeigt die Vielzahl an Lobeshymnen, die – gekleidet in unterschiedliche Textsorten – zeitgleich auch andere ARD-Anstalten veröffentlichen.

Hier eine Auswahl:

Deutschlandradio, 13.02.2015
Schlaf. „Zum Glück müssen Politiker keine Lastwagen fahren.“ Liane von Billerbeck:
Schlaf (2)
„Donnerstag Minsk, Poroschenko, Freitag Moskau, Putin, Samstag München, Sicherheitskonferenz, Sonntag Flug nach Washington, Montag bei Obama und fix in Ottawa bei Harper, Dienstag Flug zurück nach Berlin, Mittwoch Berlin, Staatsakt für Weizsäcker, danach Flug nach Minsk, Mittwochnachmittag bis Donnerstagmorgen 16 Stunden lang durchverhandelt, Donnerstag nach Brüssel, Treffen der europäischen Regierungschefs, und Freitag – ja, was macht Frau Merkel eigentlich freitags? Wie geht so was eigentlich? Wie kann man so leben und arbeiten, ohne ausreichend Schlaf? Das will ich jetzt den Experten dafür fragen, nämlich Professor Achim Kramer. Er leitet an der Berliner Charité die Arbeitsgruppe Chronobiologie und ist ein mit dem Leibniz-Preis ausgezeichneter Biochemiker, der unsere inneren Uhren erforscht. Herr Kramer, guten Morgen! (…)“

WDR 4, 12.02.2015:
„Angela allgegenwärtig“ Von Thomas Spickhofen
Angela allgegenwärtig (2)
„Merkel in Moskau, Merkel in München, Merkel in Minsk – der Kalender der Kanzlerin zeugt von einer akuten Allgegenwart an den Krisenherden der internationalen Politik. Oder ist da etwa ein Double im Spiel? (…)
Es ist erstaunlich und, ja: bewundernswert, mit welchem Pensum die Kanzlerin im Moment unterwegs ist und wie sie persönliche Verantwortung wahrnimmt. Aber wie das wohl wird, wenn sie mal wieder ein paar Tage am Stück in Berlin ist und sich zum Beispiel um die PKW-Maut kümmern muss.
Obwohl: Vielleicht hat sie ja tatsächlich ein Double. Und vielleicht wünscht sie sich das manchmal sogar sehr. Zum Beispiel, wenn es um die Maut geht.“

NDR, 13.02.2015:
„Wie oft gibt es Angela Merkel?“ Eine Glosse von Dietmar Riemer, Leiter des NDR Info Hauptstadtstudios in Berlin*
„Von Moskau über Washington nach Minsk – und dann noch nach Brüssel, bevor es nach Hause geht nach Berlin: Neun Flüge in sieben Tagen – da braucht unsere Kanzlerin schon eine stramme Kondition. Es sei denn, man schickt einen Doppelgänger auf die Reise … Also fragen wir an dieser Stelle: Ist Angela Merkel wirklich einmalig? (…).“
* Dieser Beitrag wurde aus dem Onlineangebot des NDR entfernt. Auf Anfrage teilte man uns mit: „Wir erhielten eben die Rückmeldung aus der Redaktion von NDR-Info, dass der gewünschte Beitrag nicht mehr vorliegt.
Mit freundlichen Grüßen
Publikumsservice ARD-aktuell“

MDR, aktualisiert am 15.02.2015:
„Merkels Männer – sie haben’s nicht leicht“ von Uwe Jahn, Hauptstadt-Korrespondent und Kolumnist für MDR INFO *
„Die Kondition der Kanzlerin ist weltweit gefürchtet. Vor allem in dieser Woche hat Angela Merkel ein imposantes Arbeitsprogramm hingelegt und damit die Männer in ihrem Umfeld alt aussehen lassen. (…).“
* Dieser Beitrag wurde aus dem Onlineangebot des MDR entfernt. Auf Anfrage teilte man uns mit:
Vorbehaltlich der Rechteklärung sowie der redaktionellen Freigabe beträgt der Lizenzpreis für den Beitrag, zur Nutzung auf Ihrer Webseite 300,00 Euro zzgl. MwSt…
Die Lizenzzeit beträgt ein Jahr. Eventuell enthaltene Musik wäre Ihrerseits bei der GEMA/GVL zu klären. Über eine kurze Mitteilung, ob das Angebot interessant für Sie ist, würde ich mich freuen und bei Zustimmung alles Notwendige veranlassen.
Mit freundlichen Grüßen
Administration of Telepool Leipzig

Deutschlandradio, 14.02.2015
„Die Marathonfrau“, Kommentar von Peter Lange, Chefredakteur von Deutschlandradio Kultur:
Marathonfrau (2)
„Was für eine Woche! Zwei parallele Dramen in Minsk und in Brüssel, zwei Krisenherde, die es einzuhegen gilt, beide mit großer zerstörerischer Energie und dem Potential zu Kettenreaktionen, deren Folgen von niemandem absehbar sind.
Und mittendrin und vorneweg: Die deutsche Bundesregierung mit Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier an der Spitze. Vom Bundespräsidenten abwärts ist in den letzten Jahren immer wieder eine größere Verantwortung Deutschlands in der Weltpolitik beschworen worden. In dieser Woche ist das handfeste Realität geworden und so deutlich wie kaum jemals zuvor. Europa muss sich selber kümmern – um den kriegerischen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, um das Verhältnis zu Griechenland, wo eine vom Wahlsieg berauschte neue Regierung wohl erst einmal ausgenüchtert werden musste. Da waren sie bei der deutschen Kanzlerin an der richtigen Adresse. Wenn Angela Merkel angesichts dieser besonderen Woche für ihre physische Belastung bedauert und für ihre Kondition bewundert wird – das geht bald 10 Jahre so…“

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[127] Tagesthemen 12.02.2015.
[128] Christian Schicha: a.a.O., S.21.

Kapitel 11 – Die Geschichte von der guten Mutter (Teil II)

Merkel Kompromisse

Analytischer Teil: Es war einmal…

11 Die Geschichte von der guten Mutter (Teil II): Chaos und ein Eklat auf der anderen Seite

Tagesschau vom 12.02.2015 (12:18 Uhr) [129]

Claus-Erich Boetzkes (BR): „… und mit Griechenland gab es erneut Ärger. Von einem richtigen Halbstarken-Verhalten der Griechen ist bereits die Rede, Rolf-Dieter Krause in Brüssel, was hat für Unmut bei den EU-Finanzministern gestern gesorgt?“
Krause
Rolf-Dieter Krause (WDR): „Naja, es war ein zumindest ungewöhnliches Verhalten. Der griechische Finanzminister hat mit seinen 18 Partnern lange und hart verhandelt. Er hatte alle gegen sich, auch Zypern. Und am Ende war eine Vereinbarung auf dem Tisch. Und dann haben alle anderen zugestimmt. Und dann hat er seine Zustimmung, obwohl er Verhandlungsführer war, zurückgezogen.“

Tagesthemen vom 12.02.2015 (Teil II) [130]

Korrespondentenbeitrag von Bettina Scharkus (WDR)

Bettina Scharkus/Off: Angela Merkel hat noch keinen Besuch bekommen vom neuen griechischen Regierungschef. Mit ihr suchte er noch nicht das Vier-Augen-Gespräch.
In Brüssel treffen die beiden nun erstmals nach der Griechenland-Wahl persönlich aufeinander.

Die Begrüßung ist freundlich, der Ton konziliant:

Tsipras merkelMerkel Kompromisse
Angela Merkel/On: Kompromisse geht man dann ein, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen. Und Deutschland ist dazu bereit – allerdings muss man auch sagen, dass Europas Glaubwürdigkeit natürlich auch darauf beruht, dass wir Regeln einhalten und dass wir verlässlich zueinander sind.

Bettina Scharkus/Off: Die Forderung der EU nach verlässlicher Politik wird lauter, denn gestern kam es beim Treffen der Finanzminister kurz vor Mitternacht zum Eklat:
Verärgerter V 11Verärgerter V2
Der Finanzminister aus Athen wollte ein gemeinsam entwickeltes Papier plötzlich dann doch nicht mehr unterschreiben […]. Eine griechische Krisendiplomatie, die manch einer hinter vorgehaltener Hand so beschreibt: als ziemlich chaotisch und unprofessionell.

Fakten und Analyse:

Schlüsselbild: verärgerter Yanis Varoufakis
Schlüsselwörter: ernsthafte Bemühungen (s. Geschichte 10), verlässlich/ verlässliche Politik, freundlich konziliant vs. Eklat, Ärger, Halbstarken-Verhalten, chaotisch, unprofessionell.

Mit dem Archetypus der Mutter betritt eine weitere Figur die Bühne im Drama der griechischen Heldenreise. Anmoderation und Beitrag versehen die Figur der Bundeskanzlerin mit den entsprechenden Attributen: aufopferungsvoller Dienst an der Gemeinschaft, freundlich, konziliant und kompromissbereit.
Angela Merkels Forderung nach Verlässlichkeit wird von der Korrespondentin zunächst in die „lauter“ werdende Forderung der gesamten EU nach „verlässlicher Politik“ eingeordnet. Die Berechtigung dieser Forderung wird in Form eines Rückblicks belegt, der den sich am Vortag (angeblich) ereignenden „Eklat“ in der Gestalt eines sichtlich verärgerten griechischen Finanzministers vor Augen führt („Wahrheitsbeweis“, Authentizitätsnachweis).

Damit wird gleichzeitig dem als „freundlich und konziliant“ hervorgehobenen Verhalten der guten Mutter die (angebliche) Ruppigkeit des griechischen Teenagers gegenübergestellt. Auch im Schaltgespräch der Tagesschau (Mittagsausgabe) wird der Erwachsenen-Teenager-Frame erzeugt: „Mit Griechenland gab es wieder Ärger“.

Claus-Erich Boetzkes fragt den Korrespondenten nicht, welche inhaltlichen Differenzen es zwischen den Verhandlungspartnern gibt, sondern danach, welches „Halbstarken-Verhalten“ „den Unmut“ der anderen EU-Finanzminister erregt hat.

Von Yanis Varoufakis‘ ökonomischer Argumentation, dass das Troika-Programm rezessionsverursachend sei, wird damit ein weiteres Mal abgelenkt (Red Herring) durch einen Angriff auf seine Vertrauenswürdigkeit (ad hominem). Statt den Zuschauer über den Inhalt der Verhandlungen zu informieren, wird das angebliche Verhalten des griechischen Finanzministers thematisiert.

Rekontextualisierung/Reframing

Der Ärger des Finanzministers darüber, nicht unbehelligt von Kameras telefonieren zu können, wird aus seinem situativen Sinnzusammenhang gelöst und als visueller Beleg für die kolportierten Gerüchte (Wieselwort: „hinter vorgehaltener Hand“) über einen Eklat und eine chaotische und unprofessionelle Krisendiplomatie verwendet (Bildmanipulation durch Kontextfälschung). Tatsächlich steigert die Aufnahme des verärgerten Yanis Varoufakis die Glaubwürdigkeit des Off-Textes. Der Zuschauer meint fälschlicherweise, mit eigenen Augen den Eklat gesehen zu haben („Wahrheitsbeweis“, Augenzeugenillusion).

Varoukamera
Das ZDF, das dieselbe Szene zeigt, ordnet den Kontext mittels Übersetzung von Yanis Varoufakis‘ Worten zumindest korrekt ein:

„‚Ich telefoniere gerade‘, ruft Yanis Varoufakis genervt den Reportern zu.“ [131]

Auslassung

Der Zuschauer erfährt nicht, dass Yanis Varoufakis diesem auch von anderen Medien verbreiteten Gerücht, wonach er der Erklärung zugestimmt hatte, bereits widersprochen hatte. [132]

Der Zuschauer erfährt auch nicht, dass Yanis Varoufakis nachts nach Sitzungsende auf offener Straße ARD und ZDF exklusiv ein Interview gegeben hatte, dessen Inhalt, obwohl wichtig zum Verständnis der Verhandlungssituation, keinerlei Eingang in die Berichterstattung gefunden hat. Dem „hinter vorgehaltener Hand“ Kolportierten misst die ARD einen größeren Nachrichtenwert zu als dem direkt mit Varoufakis geführten Interview.

Im Gespräch mit ARD und ZDF hob er als Ergebnis der Sitzung hervor, sich „besser zu verstehen“ als noch am Morgen. Er erklärte aber auch, weshalb Griechenland der Verlängerung des laufenden Programms nicht zustimmen kann:

„Weil für uns das Programm katastrophal ist. […] Das Gerücht, dass sich die griechische Wirtschaft in der zweiten Hälfte 2014 erholt habe, ist stark übertrieben. Das reale Wachstum des BIP war bloß eine Fata Morgana: In Wirklichkeit sank das nominelle BIP, das nominelle Einkommen, und der einzige Grund, weshalb das reale BIP stieg, war, dass die Preise schneller fielen. Das ist nicht der Fall, wenn man sich erholt, das ist der Fall in einer großen Depression, wie in den 1930er Jahren […]. Das Experiment ist gescheitert. Was macht nun ein Wissenschaftler, wenn ein Experiment gescheitert ist? Er überarbeitet es […].

Die Tatsache, dass wir ein frisches Mandat haben, gibt uns nicht das Recht zu tun, was wir wollen, aber es gibt uns das Recht, gehört zu werden. Und so hat heute der Prozess des Gehörtwerdens begonnen und hoffentlich wird bald ein neuer Vertrag zwischen Griechenland und Europa sein, so dass wir endlich Griechenland aus den Schlagzeilen nehmen und sicherstellen, dass Sie nicht wieder hier draußen in der Kälte warten müssen, um mit mir, dem griechischen Finanzminister, zu sprechen. Und das ist mein Traum. Danke […].“[133]

Der Zuschauer wird auch in den Tagesthemen vom 16. Februar 2015 nicht erfahren, dass Yanis Varoufakis auf seiner Pressekonferenz noch einmal in Bezug auf die Eurogruppen-Sitzung vom 11. Februar 2015 erläutert, weshalb er die an ihn gestellte Forderung abgelehnt hat, eine Erklärung zu unterschreiben, die Griechenland dazu verpflichtet hätte, „das laufende Programm zu verlängern und erfolgreich abzuschließen“: Den europäischen Partnern zu versprechen, ein Programm erfolgreich zu beenden, dessen Logik die griechische Regierung in Zweifel zieht, wäre laut Yanis Varoufakis ein Trick, also unehrlich gewesen. [134]

Stattdessen wird in den Tagesthemen vom 16. Februar 2015 der griechische Finanzminister für das Scheitern der Verhandlungen auch vom 16. Februar 2015 verantwortlich gemacht. Als Ursache genannt werden dieses Mal: sein angebliches Pokerspiel (Geschichte 12), seine angebliche Arroganz und Chuzpe (Geschichte 13) sowie seine angebliche Kompromisslosigkeit (Geschichte 14).

All diese Zuschreibungen dienen dazu, erneut die Vertrauenswürdigkeit des griechischen Finanzministers in Zweifel zu ziehen (ad hominem) und damit vom inhaltlichen Stand der Verhandlungen abzulenken (Red Herring).

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[129] Tagesschau 12.02.2015, Mittagsausgabe.
[130] Tagesthemen 12.02.2015.
[131] ZDF-heute 12.02.2015.
[132] Mike Bird: Europe’s finance ministers very nearly agreed to this provisional deal on Greece, in: Business Insider, 12.02.2015.
[133] Yanis Varoufakis. Interview mit ARD und ZDF nach der Eurogruppensitzung vom 11.02.2015 (ab Min. 2:14).
[134] Yanis Varoufakis. Pressekonferenz vom 16.02.2015.

Kapitel 12 Der rätselhafte Herr Varoufakis

Poker12

Analytischer Teil: Es war einmal…

12 Die Geschichte vom rätselhaften Herrn Varoufakis – das Scheitern der Verhandlungen vom 16. Februar 2015 (Teil I)

Tagesthemen vom 16.02.2015 [I] [135]

Thomas Roth (WDR): „Droht nun doch der sogenannte Grexit? […] In Brüssel war die Stimmung beim Milliardenpoker um die griechischen Schulden heute Abend jedenfalls ziemlich düster.“
Anmoderation 12Poker12
„Besonders die griechische Seite ließ sich beim Pokern um den Schuldendienst nicht in die Karten schauen, und das führte am Ende dazu, dass alle anderen Finanzminister der Eurogruppe bei ihrem heutigen Treffen in Brüssel gar nicht mehr wussten, was die Griechen wirklich wollen […].“

Im folgenden Beitrag erzählt Korrespondent Christian Feld die Geschichte des Scheiterns der Verhandlungen in Form einer Rückblende:

Christian Feld (NDR)/ Off: Kurz nach 18 Uhr – Athen lehnt neues Angebot der Eurostaaten als absurd ab. Eine Eilmeldung, die das Scheitern ankündigt, aber der Reihe nach:

[…] Als der griechische Finanzminister heute in Brüssel vorfährt, fehlt offenbar noch immer eine gemeinsame Grundlage. Der Ton beim Rest der Eurogruppe wird schärfer.

Wolfgang Schäuble/On: Die griechische Regierung hat sich offenbar gar nicht bewegt.

Christian Feld/Off: Die Sitzung in Brüssel bringt keine Annäherung, im Gegenteil: Die Kluft scheint immer größer zu werden. Fast alle im Raum halten eine Verlängerung des bestehenden Programms für den richtigen Weg – um Zeit zu gewinnen; alle – bis auf einen:

Yanis Varoufakis – auf dem Weg zu seiner Pressekonferenz. Er sagt, Griechenland sei mit einer untragbaren Vereinbarung konfrontiert worden, aber man könne sich auf halber Strecke einigen, innerhalb von 48 Stunden:

Yanis Varoufakis/ On: Europa macht einen schwierigen Prozess durch, nämlich sich darauf einzustellen, dass da jetzt eine neue griechische Regierung ist, die das bisherige Programm in Frage stellt. Das lief 5 Jahre und ist gescheitert. […].

Christian Feld/Off: Auf dem Weg raus, fliegt ihm [Varoufakis] noch eine Frage entgegen: ‚Sich auf halber Strecke treffen, was bedeutet das für Griechenland?‘
V zur PK 12halbe Strecke12 Yanis Varoufakis/On: Benutzen Sie Ihre Phantasie
Christian Feld/Off: … sagt er und bleibt für seine Zuhörer ein weiteres Mal rätselhaft.

Fakten und Analyse

Schlüsselbild: Spielkarten (Einblendung erst ab Erwähnung der „griechischen Seite“)
Schlüsselwörter: Stimmung ziemlich düster, Milliardenpoker, pokern, nicht in die Karten schauen lassen, rätselhaft

Falschinformationen, Dekontextualisierung und Auslassung

Undurchsichtig. Ausweichend. Pokernd. Hier klingt erneut der Trickster-Mythos an. Es sind dramaturgische Zuschreibungen, die mit der Realität allerdings nichts zu haben:

a) Zur Anmoderation Thomas Roths:

Die von Griechenland als Reaktion auf solche Gerüchte veröffentlichten Dokumente (Reden des griechischen Finanzministers vom 11. und 16. Februar 2015 samt jeweiliger schriftlicher Diskussionspapiere) widerlegen die Aussage Thomas Roths. Alle anderen Finanzminister wurden von Yanis Varoufakis in den Eurogruppensitzungen zweifelsfrei darüber informiert, was „die Griechen wirklich wollen“. [136]

Der Moderator gibt hier die Perspektive des Bundesfinanzministers wieder: „Niemand der Kollegen hat bisher verstanden, was Griechenland am Ende wirklich will“ [137] sowie die von diesem am selben Tag noch vor Verhandlungsbeginn im Interview mit dem Deutschlandfunk getroffene Aussage vom „großen Pokerspiel dieser neuen Regierung“. [138]

So wird in der Anmoderation das Spielkarten-Symbolbild just in dem Moment eingeblendet, als Thomas Roth auf die „griechische Seite“ zu sprechen kommt.

b) Zum Korrespondentenbeitrag: Christian Feld/Off:

Auf dem Weg raus fliegt ihm noch eine Frage entgegen: ‚Sich auf halber Strecke treffen, was bedeutet das für Griechenland? Yanis Varoufakis/On: Benutzen Sie Ihre Phantasie, … Christian Feld/Off: … sagt er und bleibt für seine Zuhörer ein weiteres Mal rätselhaft.

Die Aufnahme der rätselhaften Antwort des griechischen Finanzministers auf die ihm nach der Pressekonferenz entgegen „fliegende“ Frage hat Beweischarakter: Sie soll die Behauptung der Anmoderation stützen, Griechenland lasse sich nicht in die Karten gucken. Der Zuschauer meint, Zeuge davon zu werden, wie der griechische Finanzminister der Frage ausweicht („Wahrheitsbeweis“/Authentizitätsnachweis, Augenzeugenillusion).

Was der Zuschauer nicht weiß: Yanis Varoufakis hatte diese Frage, die ihm beim Verlassen des Gebäudes medienwirksam „zuflog“, gerade eben erst auf der im Beitrag gezeigten Pressekonferenz in aller Ausführlichkeit beantwortet und rät dem Fragesteller deshalb nur, seine Vorstellungskraft zu nutzen („Use your imagination“).
halbe Strecke12

Die ARD aber hatte ihren Zuschauern einen anderen Ausschnitt der Pressekonferenz gezeigt.
Für die Zuschauer der ARD muss Yanis Varoufakis infolgedessen tatsächlich „ein weiteres Mal rätselhaft“ bleiben, nicht aber für den ARD-Korrespondenten selbst, der den Inhalt der Pressekonferenz kannte. „Seinen Zuhörern“ hatte der griechische Finanzminister nämlich konkret erläutert, was er unter „halber Strecke“ versteht:

Yanis Varoufakis war bereit gewesen, eine vor der Sitzung zwischen ihm und EU-Kommissar Pierre Moscovici ausgehandelte Vereinbarung zu unterschreiben (s. Geschichte 13). Die Vereinbarung hat die Verlängerung der Kreditvereinbarung enthalten, nicht aber die Vollendung des laufenden – laut griechischer Regierung wirtschaftlich gescheiterten – Reformprogramms. Diese Verlängerung sollte eine Art Zwischenvereinbarung darstellen bis zu einem neuen, stärker auf Wirtschaftswachstum setzenden Vertrag zwischen der EU und Griechenland. In dieser Zwischenzeit hätte die EU-Kommission technische Assistenz zur verstärkten und beschleunigten Umsetzung von Reformen in Griechenland geleistet. Griechenland war zudem bereit, sich zu verpflichten, keine Maßnahmen zu ergreifen, die den bestehenden Haushaltsrahmen sprengen oder Auswirkungen auf die Finanzstabilität haben könnten. Griechenland war bereit, sich zu den Finanzverpflichtungen mit allen Gläubigern zu bekennen.

Im Gegenzug erwartete Griechenland, „dass wir nicht aufgefordert werden, Maßnahmen anzuordnen, die eindeutig rezessionsverursachend sind […] wie etwa Kürzung von niedrigen Renten sowie Mehrwertsteuererhöhungen“, insbesondere in den Touristengebieten Griechenlands, die ein wichtiger Motor der griechischen Wirtschaft seien. [139]

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[135] Tagesthemen 16.02.2016.
[136] Yanis Varoufakis. Reden und Diskussionspapiere zu den Eurogruppen-Sitzungen vom 11. und 16.02.2015.
[137] Wolfgang Schäuble zur Eurogruppensitzung vom 16.02.2015. Audio: Hörbeitrag.
[138] Wolfgang Schäuble im Interview mit dem DLF. „Bin sehr skeptisch“, 16.02.2015.
[139] Yanis Varoufakis. Pressekonferenz vom 16.02.2015 (Ausschnitt, deutsche Übersetzung).

Kapitel 13 Der arrogante Herr Varoufakis

Roth V 13

Analytischer Teil: Es war einmal…

13 Die Geschichte vom arroganten Herrn Varoufakis – das Scheitern der Verhandlungen vom 16. Februar 2015 (Teil II)

Fortsetzung: Tagesthemen vom 16.02.2015 (Teil II)

„Den überaus selbstbewussten griechischen Finanzminister zeichnet außerdem das Talent aus, mit beeindruckender Chuzpe in den größtmöglichen rhetorischen Fettnapf zu springen, der irgendwie erreichbar ist. Finanzielles Waterboarding sei das, wie die EU mit Griechenlands Schuldenrückzahlung umgehe, tönte er schon im Wahlkampf […]. Auch deshalb verwundert es nicht, dass die Verhandlungen in Brüssel am Abend erst einmal geplatzt sind.“
Roth V 13

Aus dem Korrespondentenbeitrag von Christian Feld:

Christian Feld/Off: Er [Yanis Varoufakis] sagt, Griechenland sei mit einer untragbaren Vereinbarung konfrontiert worden, aber man könne sich …
er sagt griechenlandhalbe Strecke2
              … auf halber Strecke einigen – innerhalb von 48 Stunden.

Yanis Varoufakis/On: Europa macht einen schwierigen Prozess durch, nämlich sich darauf einzustellen, dass da jetzt eine neue griechische Regierung ist, die das bisherige Programm in Frage stellt. Das lief fünf Jahre und ist gescheitert.

Thomas Roth im anschließenden Schaltgespräch:

„Rolf Dieter, was ja auffällt, wenn man das so beobachtet, was der griechische Finanzminister allenthalben äußert, dann fällt ja die Ruppigkeit in der Sprache auf, ich will nicht sagen Arroganz, erregt das nicht enormen Unmut in Brüssel?“
Ruppigkeit
Rolf-Dieter Krause: „Unmut auch, aber vor allem Unverständnis. Denn die griechische Regierung reagiert so, als würde sie sich ernsthaft einbilden, dass 18 andere Länder […] über das Stöckchen springen, dass die griechische Regierung ihnen hinhält.“

Fakten und Analyse:

Schlüsselbild: Gesichtsfoto von Yanis Varoufakis
Schlüsselwörter: Chuzpe, tönte, Ruppigkeit, ich-will-nicht-sagen-Arroganz, sich ernsthaft einbilden, über das Stöckchen springen lassen

Dekontextualisierung/ Auslassung:

a) Laut Yanis Varoufakis wurde das zwischen ihm und dem EU- Währungskommissar Pierre Moscovici vor der Sitzung ausgehandelte Papier kurz vor der geplanten Unterschrift des griechischen Finanzministers von Jeroen Dijsselbloem durch ein anderes ersetzt. [140]
Die ARD zeigt in dem der Anmoderation Roths folgenden Beitrag sogar einen Ausschnitt aus jener Pressekonferenz vom 16. Februar 2015, in der Varoufakis diesen Vorgang bekannt macht – sie präsentiert ihren Zuschauern aber einen anderen Ausschnitt.

Die griechische Regierung hat beide Dokumente nur wenige Tage später (Moscovici-Entwurf sowie Dijsselbloem-Entwurf) veröffentlicht. [141]

Die Tagesthemen informieren ihre Zuschauer über Yanis Varoufakis‘ Vorwürfe nicht. Die Aussage des Korrespondenten, Athen lehne „das neue Angebot der Eurostaaten als absurd ab“ (Geschichte 12), muss damit für den Zuschauer unverständlich bleiben.

Mark Schieritz, wirtschaftspolitischer Korrespondent der „Zeit“ am 17.02.2015:

„Entweder läuft hier ein abgekartetes Spiel oder irgendjemand agiert extrem stümperhaft und setzt damit die Zukunft der Währungsunion aufs Spiel. Warum wurde der Entwurf von Moscovici zurückgezogen? Und auf Druck von wem? Diese Fragen müssen beantwortet werden.“ [142]

Rekontextualisierung/Reframing

a) Stattdessen gibt die ARD im O-Ton eine Aussage von Varoufakis wieder, die aus ihrem Sinnzusammenhang losgelöst, in einen fremden eingebettet wurde (contextomy) und so seine in der Anmoderation behauptete Chuzpe und Arroganz zu bestätigen scheint. [143] Der Korrespondent hatte den O-Ton nämlich so angetextet, dass seitens des Zuschauers die Erwartungshaltung entstehen musste, der griechische Finanzminister konkretisiere seine Behauptung, man könne sich auf halber Strecke einigen. Varoufakis‘ Äußerung enthält dann aber arroganterweise keinerlei Konzessionen von griechischer Seite.

Christian Feld/Off: Er sagt, er sei mit einer untragbaren Vereinbarung konfrontiert worden, aber man könne sich auf halber Strecke einigen, binnen 48 Stunden.

Yanis Varoufakis/On: Europa macht einen schwierigen Prozess durch, nämlich sich darauf einzustellen, dass da jetzt eine neue griechische Regierung ist, die das bisherige Programm in Frage stellt. Das lief fünf Jahre und ist gescheitert.

Was der Zuschauer nicht weiß: Yanis Varoufakis hatte an anderer Stelle der Pressekonferenz erläutert, was er unter „halber Strecke“ versteht (s. Geschichte 12). An dieser Stelle der Pressekonferenz beantwortet er die Frage eines Journalisten, der die Stellungnahme der übrigen Eurogruppenländer zum Scheitern der Verhandlungen als Beweis dafür bewertete, dass der Grexit bevorstehe. [144]

Frage des Journalisten: „Ist das nicht ein Beweis dafür, dass Griechenland die Eurozone verlassen muss?“

Yanis Varoufakis: „Alles, was heute Abend bewiesen wurde, ist, dass Europa einen schwierigen Prozess durchmacht, nämlich sich darauf einzustellen, dass da jetzt eine neue griechische Regierung ist, die das bisherige Programm in Frage stellt. Das lief fünf Jahre und ist gescheitert. […] Und unser Problem ist, unsere Partner davon zu überzeugen, dass Europa dem Programm, das nicht funktioniert, ein Ende bereiten muss, um weitere Verluste zu vermeiden. […].“

Varoufakis entkräftet im Folgenden das Argument, dass Griechenland „über den Berg“ sei und das Reformprogramm zu einem Wirtschaftswachstum geführt habe (s. Geschichte 11) und endet mit den Worten: „Griechenland ist ein Mitglied der Eurozone und wird es bleiben. Europa ist unteilbar.“

Dafür, dass der Zuschauer Yanis Varoufakis‘ Aussage in dem von der ARD präsentierten falschen Kontext kritisch beurteilt, sorgt auch ein wichtiger Darstellungseffekt (optische Kommentierung):

Während der Korrespondent den O-Ton von Yanis Varoufakis mit dessen Aussage antextet, „man könne sich auf halber Strecke einigen innerhalb von 48 Stunden“, zeigt die Kameraeinstellung 3 Sekunden lang eine demonstrativ negative „Publikumsreaktion“, wie sie – sollte sie überhaupt authentisch sein – in einem Filmbeitrag über eine Pressekonferenz des Bundesfinanzministers wohl kaum gezeigt würde.

halbe Strecke13Gesichtsfasching

Off: Man könne sich auf halber Strecke einigen innerhalb von 48 Stunden.

„Selbst kleinste Veränderungen in der Darstellung, z.B. das Zeigen oder Nichtzeigen von Nervosität, Zoomen auf einen Sprecher, das Einschneiden von positiven oder negativen Publikumsreaktionen kreieren beim Publikum verschiedene Eindrücke einer Person […]. Die Möglichkeiten des Fernsehens, mit Hilfe von Darstellungstechniken Images von Politikern zu beeinflussen, sind praktisch unbegrenzt.“ [145] (Wolfgang Donsbach).

b) Das in der Anmoderation verwendete Foto von Varoufakis wurde als Standbild aus einer Filmsequenz mit dem entsprechenden Kontext herausgelöst(Dekontextualisierung):

Durch die neue Bedeutungsverknüpfung („Chuzpe“) gewinnt das Bild eine Bedeutung, die es im Bewegtbildablauf nicht gehabt hatte (Bildmanipulation durch Kontextfälschung).

Das zeigt die Original-Aufnahme [146]:

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[140] Yanis Varoufakis. Pressekonferenz vom 16.02.2015 (Ausschnitt, deutsche Übersetzung).
[141] Vertragsentwürfe von Pierre Moscovici und Jeroen Dijsselbloem
[142] Mark Schieritz: Wer ist schuld am Griechen-Gau? Herdentrieb [Weblog], 17.02.2015.
[143] Hannes Vogel: Varoufakis war kein Großkotz, n-tv, 19.02.2015.
[144] Yanis Varoufakis. Pressekonferenz vom 16.02.2015 (vollständig, Englisch).
[145] Wolfgang Donsbach: a.a.O.
[146] Varoufakis vor Beginn der Pressekonferenz vom 16.02.2015.

Fortsetzung folgt am 18.08.2016